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Nach langem Nachdenken und vielen Diskussionen über den Reifeprüfungsaufsatz als auch über den Lebenslauf von Despoina-Afroditi, kamen wir zum Schluss, dass uns die politische Einstellung Despoina-Afroditis, die sie in ihrem Aufsatz äußert, widersprüchlich und fragwürdig erscheint. Wir fanden es seltsam, dass eine griechische Schülerin, die weder deutsche Wurzeln, noch in Deutschland gelebt hat, die nationalsozialistische Weltanschauung so stark verinnerlicht hat. Das wirft die Frage auf, ob Despoina-Afroditis Ausführungen tatsächlich ihrer inneren Überzeugung entsprechen, zumal die Lehrer sie in ihrem Gutachten als eine Schülerin charakterisieren, die „in politischen Fragen gerne eine kritische Haltung einnehme“ und „eine stark französisch beeinflusste Denkweise sowie eine unklare innere Stellung zum Deutschtum“ zeige. Von daher drängt sich für uns die Vermutung auf, dass Despoina-Afroditi ihren Aufsatz aus Anpassungszwangs verfasst haben könnte. Es ist dazu anzumerken, dass die Gedanken Despoina-Afroditis vom Lehrer gelobt wurden. Hier stellen wir euch unsere Überlegungen vor:

✎ Beitrag: Sophia Dorn, Chrysanthi Dellas-Grivas, Mario Triantafyllou

Überlegungen zu Despoina-Afroditi

Despoina-Afroditi ist als Griechin, die in Smyrna (dem heutigen Izmir) in Kleinasien geboren wurde, den Großteil ihrer Kindheit in der französischsprachigen Schweiz lebte und ihr Abitur auf einer deutschen Auslandsschule absolvierte, sehr weltoffen und multikulturell geprägt. Wir hätten daher von einer Person wie Despoina-Afroditi, die einen enormen Reichtum an Erfahrungen in anderen Ländern, aus denen sie schöpfen konnte und so viele Impulse aus verschiedenen Kulturen erhalten hatte, wesentlich mehr „Immunität“ und Resistenz gegenüber nationalsozialistischen Ideen erwartet. Daher irritieren uns Aussagen wie: „[I]ch würde sogar sagen[,] es gibt kaum ein […] tragische[res] Schicksal, als das eines Menschen[,] der sich zu gar keinem Land zu bekennen weiss“ aus ihrem Reifeprüfungsaufsatz.

Bildquelle: Berlin, Nähstube des BDM„Schont Kleider und Schuhe“ – zum Aufruf der Reichsjugendführung. Vortext siehe J 2937 UBz: ein Blick in eine BDM-Nähstube in der Sachen des Jungvolks ausgebessert werden. Phot. Schwanke, 29.7.1942[Berlin.- Bund Deutscher Mädel (BDM), Nähstube, Mädchen an Nähmaschinen sitzend, an der Wand Plakat mit Porträt Adolf Hitler und Text „Wir folgen Dir“], Berlin Juli 1942,Bundesarchiv, Bild 183-J02938 / CC-BY-SA 3.0, CC BY-SA 3.0 DE <https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/de/deed.en>, via Wikimedia Commons 

Um der Schülerin gerecht zu werden, sollten wir allerdings mitberücksichtigen, dass sich unsere Erwartungshaltung an die Schülerin aus unserem Erfahrungshintergrund des 21.Jahrundert nährt. Fast 100 Jahre trennen uns von Despoina-Afroditis Jugendzeit. Es ist daher sehr schwer, sich der psychischen und emotionalen Verfassung einer 18jährigen Jugendlichen der 30er Jahre in Griechenland des letzten Jahrhunderts anzunähern. Was beschäftigte Jugendliche damals, wofür haben sie geschwärmt, welche Themen konnte sie begeistern, welche Idole und Vorbilder hatten sie? All diese Fragen bleiben für uns leider weitgehend unbeantwortet. Die NS-Bewegung mit ihren Jugendorganisationen (HJ und BDM) begeisterte, wie wir wissen, viele junge Menschen, da das Angebot an gemeinschaftlichen Freizeitunternehmungen für sportliche und abenteuerlustige Jugendliche, Jungen als auch Mädchen attraktiv war. Viele wollten dazugehören und die Schulen waren für die NS-Erziehung der ideale Ort, um Kinder und Jugendliche in ihrem Sinne zu erziehen und zu indoktrinieren. Sicherlich hat Despoina-Afroditi ihre deutschen MitschülerInnen in der HJ bzw. BDM gesehen, erlebt und vielleicht sogar bewundert. Vor diesem Hintergrund könnte die Argumentation in ihrem Reifeprüfungsaufsatz pro Identifikation mit einem Land durchaus Sinn ergeben, da sie es möglicherweise sogar als Mangel oder Defizit empfunden haben könnte, sich mit keinem Land zu identifizieren.

Bildquelle:KZ Dachau, Besuch von BDM-Führerinnen Konzentrationslager Dachau.- Besuch von BDM-Führerinnen und politischen Leitern (insbesondere Heinrich Himmler und Martin Bormann) bei der SS in Dachau, 8.5.1936,Bundesarchiv, Bild 152-11-30 / CC-BY-SA 3.0, CC BY-SA 3.0 DE <https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/de/deed.en>, via Wikimedia Commons 

In ihrem Lebenslauf berichtet sie auch davon, dass sie in der Volksschule in Lausanne ihren ersten Deutschsprachkurs erhielt und somit schon sehr früh, sowohl mit der deutschen Sprache als auch mit der deutschen Kultur konfrontiert wurde. Die erste Berührung mit der NS-Weltanschauung dürfte Despoina-Afroditi wohl mit 14 Jahren an der damaligen DSA erhalten haben, da wir davon ausgehen, dass in der Schweiz keine NS-Ideologie in den Schulen vermittelt wurde. Das würde bedeuten, dass Despoina-Afroditi mit 14 Jahren, also in einem sehr vulnerablen Alter, in der sich Jugendliche in der Orientierungsphase befinden, für die NS-Ideologie empfänglich wurde.

Bildquelle: Worms, Aufmarsch der Deutschen Jungmädel, für den Erhaltung des deutschen Volkstums im „Grenzland“, Transparent „Grenzlandnot ist Volksnot“.Worms 1933, Gaubildarchiv Worms (Bild 133)Bundesarchiv, Bild 133-237 / CC-BY-SA 3.0, CC BY-SA 3.0 DE <https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/de/deed.en>, via Wikimedia Commons

 

Vermutungen über Despoina-Afroditis Zukunft

Wir haben leider keinerlei Anhaltspunkte und Informationen über ihren weiteren Werdegang und was aus Despoina-Afroditi nach dem Abitur wurde. Wir kennen zwar ihren Wunsch moderne Fremdsprachen zu studieren, können aber nicht sagen, in welchem Land sie ihr Studium antrat und ob ihr Traum, angesichts des Kriegsausbruchs im September 1939 überhaupt in Erfüllung ging. Da sie aber die Mühe auf sich nahm ein Jahr länger die Schulbank zu drücken, um auch das deutsche Abitur zu erhalten, gehen wir davon aus, dass sie ein Studium in Deutschland ernsthaft in Erwägung zog. Despoina hat 1938 ihr griechisches Abitur mit der Note „gut“ bestanden.

Der folgende fiktive Brief an die Schülerin fasst unsere Überlegungen zusammen:

Liebe Despoina-Afroditi,

bei der Recherche in unserem Schularchiv sind wir auf deinen Reifeprüfungsaufsatz aus dem Jahr 1939 gestoßen. Das Thema deines Reifeprüfungsaufsatzes im Fach Deutsch war ein Zitat des französischen Philosophen Paul de Lagarde „Ein Volk sein, heißt: eine gemeinsame Not empfinden“, welches du erläutern und erörtern musstest. Beim Lesen deines Aufsatzes haben wir uns des Öfteren gefragt, ob du tatsächlich Lagards Meinung warst, oder ob du vielleicht aufgrund des Anpassungsdrucks so kritiklos das NS-Gedankengut übernommen hast, um den Erwartungen deiner Lehrer zu entsprechen. Wie wir aus unseren Nachforschungen wissen, wurde die NS-Ideologie auch an den deutschen Auslandsschulen über den Unterricht und die Schulmaterialien vermittelt. Vier Jahre lange ideologische Unterweisungen hinterlassen natürlich ihre Spuren im Denken und in der Vorstellungswelt von Jugendlichen. Das könnte deine unkritische Antwort auf die Themenstellung erklären. Besonders irritiert hat uns aber die Tatsache, dass du trotz deines multikulturellen Hintergrundes, von den nationalsozialistischen Ideen und Vorstellungen scheinbar stark beeinflusst warst. Gleichzeitig verstehen wir, dass man sich in einem so jungen Alter, wie du es warst und mit einer so weitreichenden kosmopolitischen Biographie im frühen 20. Jahrhundert durchaus auch nach Reliabilität, nach etwas Sicherem, an dem man sich festhalten konnte, sehnte. Könnte das ein Grund sein, warum du dich so sehr für den Nationalstaat begeistert hast?

Bildquelle: Fürth (Bay.), Schulhaus Schwabacher Straße 86/88 im Sommer 1934 (Gebäude heute noch vorhanden). Anlass: Vorbereitung der Volksabstimmung über das Staatsoberhaupt des Deutschen Reiches; 89,9 % (Fürth: 90,6%) der Stimmberechtigten bestätigen die Vereinigung der Ämter des Reichspräsidenten und des Reichskanzlers in der Person Adolf Hitlers.(19. August 1934), Autor: Ferdinand Vitzethum Attribution, via Wikimedia Commons

Heute im Jahr 2022, mehr als 80 Jahre später betrachten wir als Deutsch-Griechen in einer europäischen Begegnungsschule, die Thematik und Problematik des „nationalen Denkens“, “Nationalgefühls“, und „Verherrlichung der eigenen Nation“ äußerst kritisch. Wir stellen fest, dass durch den Diaspora-Status und durch die größere Mobilität in unseren modernen Gesellschaften, der „Nationalstaat“ in seiner Bedeutung von vielen Jugendlichen heute viel kritischer hinterfragt wird. Viele Bürgerinnen und Bürger Europas und der ganzen Welt identifizieren sich oft nicht mehr nur mit einem bestimmten Land, da sie unzählige andere Länder, Kulturen, andere Gesellschaften und Lebensweisen kennen und lieben gelernt haben und multikulturell aufgewachsen sind.

Natürlich kann man eine Nation als eine Art „Schicksalsgemeinschaft“ betrachten, denn Solidarität mit den weniger begünstigten Gruppen der Gesellschaft, sollte eigentlich selbstverständlich sein. Dennoch reicht die Schicksalsgemeinschaft einer Nation an sich nicht aus, um die großen Fragen der Menschheit zu klären oder die gravierenden Probleme der Welt zu lösen. Herausforderungen mit denen wir konfrontieren werden, wie Armut, Migration, Pandemien oder den Klimawandel, können nur durch die Zusammenarbeit aller Weltbürgerinnen und -bürger gemeistert werden, indem alle am selben Strang ziehen. Und dies sollte doch schließlich unser Ziel sein.

Liebe Grüße,

Sophia Dorn, Chrysanthi Dellas-Grivas, Mario Triantafyllou

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