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Dr. Elma Kleinschmidt, geborene Lichtenstein

Interview

Datum: 26. Juli 2021 / Beginn – Ende: 14.00 Uhr – 17.00 Uhr / Ort: Neustadt an der Weinstraße

Interview: Regina Wiesinger

Fragen: Regina Wiesinger

Kamera: Alexandros Karamalikis

Regie: Alexandros Karamalikis/ Technische Unterstützung: Alexandros Karamlikis

Untertitel, Montage: Alexandros Karamalikis Transkript: Alexandros Karamalikis

Übersetzung: Alexandros Karamalikis

Lektorat: Regina Wiesinger, Elena Koumentakou  

DSA, Projektleiterin: Regina Wiesinger / DSA, Projektbegleitung: Elena Koumentakou 

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Regina Wiesinger: Im Rahmen des Projekts DSA erinnert sich, befinden wir uns heute bei Frau Dr. Elmar Kleinschmidt in Neustadt an der Weinstraße. Wir freuen uns, Frau Kleinschmidt, dass wir heute mit Ihnen ein Interview führen dürfen. Liebe Frau Kleinschmidt, während Sie so lieb und freundlich und würden Sie uns etwas über Ihr Leben erzählen, wo und wann Sie geboren wurden, über Ihre Familie, über Ihre Eltern und Ihre Geschwister?
Frau Kleinschmidt: Ja, gerne. Ich wurde am 21.5.1937 in Athen geboren und war in Athen bis zu meinem siebten Lebensjahr. Danach in Deutschland. Ich hatte noch eine Schwester, die aber mittlerweile schon verstorben ist, die ebenfalls in Athen geboren ist. Mein Vater war damals beruflich in Athen tätig und wir wohnten am Lykabettos und fühlten uns eigentlich sehr wohl.
Regina Wiesinger: Können sie sich noch an die Gegend erinnern, wo Sie wohnten? 
Frau Kleinschmidt: Ja, ja, ja doch, das kann ich schon. Wir hatten eine Wohnung, die verhältnismäßig schlicht war. Ich habe aber das als Kind nicht so empfunden. Die [Wohnung] bestand aus einem großen Wohnzimmer, einem Schlafzimmer und einer Wohnküche. Man konnte dann über eine Treppe in einen Hof hinuntergehen, und wir lebten eigentlich meistens in dem Hof. Dieser Hof hatte eine Umzäunung durch eine Mauer. Danach ging es ziemlich steil ab. Wir hatten einen ziemlich steilen Abhang zu den Nachbarn und wir sahen dann immer zu den Nachbarn, deren Leben sich auch immer im Hof abspielte. Also es wurde auch bei einem offenen Feuer gekocht. Da war dann ein großer Kessel aufgestellt, auf dem wahrscheinlich Kichererbsen gekocht wurden. Und das fanden wir immer sehr spannend. Und wir Kinder linsten [heimlich gucken] also immer auf das Leben der Nachbarn. Meine Mutter, wenn sie das entdeckte, jagte uns natürlich sofort aus dem Hof, denn wir sollten ja nicht so impertinent aufdringlich sein. Aber Kinder sind nun mal neugierig.
Regina Wiesinger: Das heißt, sie spielten auch mit gleichaltrigen griechischen Kindern in der Wohnumgebung?
Frau Kleinschmidt: Nein. Die Familien, die um uns herum wohnten, haben keinen Kontakt mit uns gehabt. Ich habe also nur mit griechischen Kindern in der Schule oder im Kindergarten Kontakt gehabt. Ansonsten waren wir ziemlich isoliert.
Regina Wiesinger: Bleiben wir noch etwas bei Ihnen, bei Ihren Eltern, bei Ihrem Vater. Können Sie uns ein paar Details der Familiengeschichte Ihres Vaters erzählen? Woher er kam? 
Frau Kleinschmidt: Ja. Mein Vater stammte aus einer Kaufmannsfamilie, sein Vater war Spirituosenhändler. Er war ein getaufter Jude. Und die Familie meines Vaters waren alles Großhändler. So war zum Beispiel in der Hand der Brüder Lichtenstein, der Urgroßeltern, der gesamte Teehandel über Russland, China, Deutschland, Europa. Von den Brüdern lebte einer in Petersburg und einer in China und in Deutschland. Diese Brüder waren sehr reich, haben einen großen Reichtum angehäuft, den aber dann ein Bruder verscherbelt hat, wie man so sagen will oder verloren hat in der Gründerzeit, sodass also die Familie eigentlich verarmt war. Mein Großvater war das Einzelkind und seine Mutter war gewohnt, die war eine Nicht-Jüdin, auf sehr großem Fuß zu leben. Sie fuhr also regelmäßig im Winter an die Cote d’Azur. Und war also nur im Sommer in Ostpreußen. So konnte also mein Großvater wegen der Verarmung der Familie nicht studieren und lernte den Lebensmittelhandel. Jedenfalls baute er dann ein Geschäft für Spirituosen auf. Mein Vater war ebenfalls das einzige Kind. Seine Mutter war aber eine sehr hübsche, sehr beliebte Frau. Aber er war ein ständig kränkelndes Kind. Er war also ewig irgendwie in medizinischer Behandlung und auch in Krankenhäusern, sodass sie ihn immer in Krankenhäusern aufsuchte. Sie blieb, weil er sehr kränklich war im Sommer auch in Ostpreußen, im Winter zogen sie dann an die Cote d’Azur, sodass er also auch immer irgendwo unterwegs war. Aber seine Mutter zog sich bei einem Besuch im Krankenhaus, wie sie eben einen Apfel zurecht machte, einen Spreißel [Splitter] in die Hand und bekam darauf eine zum Tode führende Blutvergiftung und starb ungefähr als er 13 war, sodass er dann mit seinem Vater alleine lebte. Aber sein Vater wollte ihn natürlich nicht alleine erziehen und hat ihm dann immer irgendwelche Gouvernanten vor die Nase gesetzt, was ihn fürchterlich ärgerte. Er hat natürlich nichts Besseres gewusst, als diese Gouvernanten so zu ärgern, bis sie dann kündigten, Er hat einen enormen Verschleiß an Gouvernanten gehabt. Bis dann eines Tages das aufhörte, als er dann Abitur machte und dann als Student in Königsberg war. Da war er natürlich nicht irgendwelchen Gouvernanten ausgeliefert. Er hat in Königsberg studiert und hat dort auch seine Befähigung als Lehrer gewonnen. Er hat Philosophie und Geschichte und Theologie studiert. Damals fing aber bereits so langsam das Naziregime an, sodass er sich nicht in der Möglichkeit sah, das was er eigentlich vorhatte, eine akademische Laufbahn in Deutschland, zu absolvieren. Deswegen ging er nach seinem Staatsexamen auf Reisen, und zwar auf Reisen in den Vorderen Orient, bereiste dann also Palästina und Libyen und alle interessanten Orte des Vorderen Orients, bevor er sich dann entschloss, sich in Griechenland als Lehrer zu etablieren. Er suchte das und fand das in Kavala. Das war, glaube ich, seine erste Anlaufstelle.
Regina Wiesinger: Ihre Mutter?
Frau Kleinschmidt: Meine Mutter war zu der Zeit eine sehr mutige, sehr selbstbewusste Frau, die damals die seltene Ausbildung als Wirtschaftsleiterin in der Schweiz gemacht hatte. Aber dann in Deutschland tätig war, in dem sie mehreren Krankenhäusern die Wirtschaft [Verwaltung] führte. Sie war eine durchaus attraktive Frau, die also auch einigen Chefärzten in die Augen stach. Man sagte, sie hätte Ähnlichkeiten mit Ingrid Bergman. Ich selbst kann das nicht beurteilen. Auf jeden Fall kam sie durchaus an und einige machten ihr ziemliche Avancen. Aber sie war jemand, der nicht mit der Meinung hinterm Berg hielt, sondern sie klar den Leuten ins Gesicht schmiss. Das stand natürlich nicht gut, wenn das jemand war, der mit den Nazis zusammenarbeitete, dass sie den Leuten erklärte, welche Macken, was die Nazis also alles falsch machten. Und so passierte es eben, dass ihr gekündigt wurde und sie auch sozusagen ins Ausland auf Tour ging. So trafen sich die beiden auf einem Schiff vor Jugoslawien.
Damals vor der dalmatinischen Küste. Und sie fiel meinem Vater auf, weil sie sich neugierig
über ihn beugte und seine deutsche Zeitung las und dann noch dazu die Bemerkung machte “Finden Sie auch, dass es eine Schweinerei ist, was da bei dem Putsch passiert ist?” Das war natürlich eine tödliche Äußerung. Wenn das jemand war, der dem Dritten Reich angehörte, und er war auch sehr erstaunt, dass das jemand zu ihm sagte. Und da hat er sie betrachtet und anscheinend hat sie ihm gefallen. Auf jeden Fall kamen sie ins Gespräch. Er hat sich dann ja geoutet als jemand, der auch nicht zum Dritten Reich gehörte, sondern vor dem auf der Flucht war. Und er erzählte ihr von seinen Plänen, dass er in Griechenland eine deutsche Schule aufmachen will. Und da sagte sie ganz spontan “Ach, brauchen Sie dann nicht jemanden für den Haushalt“. “Oder eine Haushaltsleiterin?”  Und dann sagte er “Ja, natürlich, eigentlich schon”. Und damit war der Deal geschafft.
Regina Wiesinger: Das war im Jahr 1934?
Frau Kleinschmidt: Ja, ja.
Regina Wiesinger: Und da hatte ihr Vater wahrscheinlich schon die Befürchtung, dass er aufgrund der Rassegesetze nicht an der Deutschen Schule unterrichten kann.?
Frau Kleinschmidt: Er fand in Deutschland sowieso keine Aussicht [auf eine Anstellung]. Wie weit er schon mit Athen liebäugelte, das weiß ich nicht. Ich weiß nur, dass er damals in Kavala vorhatte, eine deutsche Schule zu gründen. Er befreundete sich dann sehr bald mit einigen Leuten aus Kavala an, meistens Tabakfabrikanten, die ihm sagten, dass in Griechenland durchaus Interesse an einer deutschen Bildung, also eine deutsche Schule, durchaus möglich wäre.
Regina Wiesinger: Gut. Wir bleiben noch ein bisschen in Kavala. Kavala war ja damals in den 20er und 30er Jahren eine blühende Handelsmetropole für den Tabakhandel. Und ihr Vater geht nun in diese Stadt und beginnt dort eine deutsche Sprachschule aufzubauen. Wie schafft er das? Mit welchen Mitteln, hat er Hilfe aus Deutschland?
Frau Kleinschmidt: Nein, er hatte dort aus Deutschland überhaupt keine Hilfe. Er hat sich ganz und gar darauf besonnen, Kontakte in Kavala zu machen und dann war die große Bereitschaft, bei den Griechen die deutsche Sprache als Kultursprache anzunehmen. Es war also den griechischen Männern sehr wichtig, dass ihre Kinder in der deutschen Sprache unterrichtet wurden und auch Inhalte der deutschen Bildung zugeführt bekamen. Die Nachwirkung der Freiheitskämpfe war da deutlich zu spüren. Mein Vater hat immer betont,
dass die Freundschaft Griechenlands zu Deutschland sehr tragend war.
Regina Wiesinger: Frau Kleinschmidt, hat denn Ihr Vater über die Zeit aus Kavala im Nachhinein auch gesprochen, als sie dann auch schon erwachsener waren?
Frau Kleinschmidt: Nein, nein, er hat über die Kavala Zeit eigentlich nie gesprochen. Er hat dann später zwar Artikel geschrieben über Paulus. Der Apostel Paulus war ja in Kavala. Das war das biblische Philippi und er hat über Paulus ein paar Artikel verfasst, die über diese Reise nach Philippi sozusagen referierten.
Regina Wiesinger: Ihr Vater entschließt sich ja dann, 1939 zurück nach Athen zu gehen, erinnern sie sich, welche Tätigkeit Ihr Vater in Athen hatte?
Frau Kleinschmidt: Ich weiß nur von der Tätigkeit als Chefdolmetscher, von der Bank von Griechenland, die er dann auch ein paar Jahre ausübte. Und später hat er dann mal angedeutet, das war für ihn normal, aber dann doch etwas fatal, weil dann die Verhandlungen zwischen Griechenland und Deutschland oder Nazideutschland über die Belagerung [deutsche Besatzung] waren. Und da sollte er auch entsprechend aktiv werden. Aber das hat er dann abgelehnt. Da wollte er nicht mit dabei sein.
Regina Wiesinger: Das hat er kategorisch abgelehnt? Die großen Verhandlungen wahrscheinlich im Rahmen des Zwangskredites?
Frau Kleinschmidt: Das war auch zu gefährlich für ihn. Denn er war ja nach wie vor als sogenannter Halbjude gefährdet von Leib und Leben.
Regina Wiesinger: Haben Sie das auch gespürt als Kinder, diese Sorge und die ständige Angst Ihrer Eltern aufgrund ihrer jüdischen Herkunft?
Frau Kleinschmidt: Nein. Meine Eltern haben das eigentlich sehr gut verborgen. Aber später, wodurch das passiert ist, weiß ich nicht, haben Kinder mich und meine Schwester angeschrien  “Ihr Judenpampsen!”[umgangssprachlich: frech, unverschämt] und wir wussten ja nicht, was wir damit anfangen sollten. Meine Schwester, die immer sehr cool war, drehte sich nur um und sagte: „So kleine Juden wie mich, die gibt’s gar nicht.” Und damit war natürlich den anderen sozusagen das Wasser von der Pfanne genommen.
Regina Wiesinger: Das war dann in der Zeit, als sie wieder in Deutschland waren?
Frau Kleinschmidt: Das war in Deutschland, weil wir ja sonst keinen Kontakt mit Kindern hatten.
Regina Wiesinger: Sie erzählten mir mal diese wirklich interessante Geschichte: Sie erlebten ja auch die Hungersnot in Griechenland und ich kann mich sehr gut an ein Telefonat mit Ihnen erinnern, wo Sie erzählt haben, dass Ihr Vater als Dolmetscher der Bank von Griechenland, in Naturalien bezahlt wurde.
Frau Kleinschmidt: Ja, das war damals so üblich. Man hat versucht, die Bevölkerung irgendwie zu ernähren. Meine Mutter erzählte, die [gemeint sind die Menschen in Athen während der großen Hungersnot] fielen um wie die Fliegen und waren tot vor Hunger. Es muss eine schreckliche Zeit gewesen sein. Und da hat die Bank von Griechenland anstatt die Gehälter mit Geld auszuzahlen, in Naturalien bezahlt, sodass mein Vater also einen Sack voll Bohnen, einen Sack voll Rosinen oder auch eine Ziegenkopf nach Hause brachte, den dann meine Mutter, das natürlich sehr spannend war, dann zerlegt hat und irgendwelche Essenssachen, trotzdem aus den Ziegenkopf noch herauspresste, sodass er also verwertet wurde. Und genauso brachte er seine Mittagsspeisung, denn die Bankangestellten bekamen eine Art Speise um 12:00 Uhr in Form einer Tomaten Bohnensuppe. Die hat er immer schön brav abends nach Hause gebracht, sodass wir wochenlang immer nur diese aßen und ich habe die gar nicht gemocht. Die hingen mir richtig zum Hals raus, weil jeden Tag immer dasselbe, das ist natürlich nicht sehr angenehm.
Regina Wiesinger: Also das war die klassische Fasolada, die griechische Bohnensuppe und ihr Vater ging da mit dem Blechnapf jeden Tag zu seiner Arbeit und versuchte auf diese Art und Weise seine Familie zu versorgen?
Frau Kleinschmidt: Und wir haben jeden Tag dasselbe gegessen. Einem Kind hängt das natürlich irgendwann zum Hals raus.
Regina Wiesinger: Ich kann mich auch erinnern, dass sie mir erzählten, er kam einmal mit einem großen Käserad nach Hause.
Frau Kleinschmidt: Ja, er hat auch ein großes Käserad, einmal im Monat den Lykabettos hoch gerollt. Meine Mutter hat das dann alles immer in kleine Stücke geschnitten und weiterverkauft und andere Lebensmittel eingehandelt, um die Familie zu ernähren. Genauso brachte er eines Tages einen ganzen Balken über der Schulter nach Hause. Und was war mit dem Balken geschehen? Da war in Piräus ein großes Zuckerlager in Brand geraten oder in Brand geschossen worden. Und der Zucker war auf den Holzbalken geschmolzen und so brachte er einen Zuckerbalken nach Hause, den dann meine Mutter in kleine Stücke mit dem Beil zerhackte und kochte und dann entsprechend die Melasse [Zuckersirup] zu irgendwelchen anderen Süßspeisen verwendete. Also es war eine sehr abenteuerliche Zeit, die aber sicherlich auch sehr viel Phantasie vonseiten der Hausfrau brauchte, um das ganze umzusetzen. Und meine Mutter war sehr fantasievoll. Sie hatte genau gelernt, wie man mit Speisen umgeht, sie konnte sozusagen aus „Dreck“ Apfelschorle [Apfelsaft] machen. Sie hat also aus den kleinsten Dingen attraktive Mahlzeiten gemacht.
Regina Wiesinger: Haben Sie selber auch Hunger leiden müssen?
Frau Kleinschmidt: Ja, wir haben das auch erlebt. Also ich weiß, dass wir zu Hause, einen Sack voll Rosinen oder Korinthen als eiserne Reserve hatten. Der war oben auf dem Schrank und in dem Zimmer schliefen meine Schwester und ich und wir gingen dann heimlich nachts an den Sack, machten ein Loch rein und bohrten die Korinthen heraus, so dass der Sack langsam immer kleiner wurde. Also wo was Essbares war, haben wir uns natürlich darangehalten. Aber das war ja dann auch in Deutschland so.
Regina Wiesinger: Bleiben wir ein bisschen bei Ihren Erinnerungen an das von den deutschen Wehrmachtstruppen besetzte Athen. Ich kann mich erinnern, sie erzählte, mir am Telefon die Geschichte von den Lazaretten und den verwundeten deutschen Soldaten, die es in Athen gab. Ich glaube, in Piräus waren diese Lazarette? Vielleicht wollen sie uns davon erzählen?
Frau Kleinschmidt: In Piräus waren mehrere Lazarette, und zwar waren da häufig Verbrennungspatienten, die aus dem großen Luftangriff oder dem Luftkrieg über Kreta kamen. Da waren viele Soldaten oder Piloten, die abgeschossen worden waren und dann mit großen Verbrennungen ins Lazarett kamen. Die deutschen Frauen in Athen, soweit sie Familie hatten, wurden aufgefordert, die Landser [einfache Soldaten der Wehrmacht] in den Lazaretten zu besuchen und ihnen etwas Mut zuzureden. Und auch meine Mutter fühlte sich angesprochen. Ιch nehme an, sie hat über die Kirche Kontakt zu diesen Gruppierungen bekommen. Sie zog mit uns beiden, meiner Schwester und mir an der Hand, nach Piräus, zu den Lazaretten. Wir sahen so aus, wie man sich typisch deutsche Kinder vorstellt. Also wir waren pausbäckig und hatten Zöpfe und die wurden uns dann gebunden. Und wir zogen dann ab, nach den Lazaretten und da waren dann die Soldaten hell begeistert, dass sie deutsche Kinder sahen. Sie fühlten sich an ihre Familien erinnert. Wir sangen irgendwelche Volkslieder, und zogen dann also von Bett zu Bett und dafür bekamen wir auch immer Geschenke. Wir durften uns etwas wünschen. Meine Schwester, die immer schon sehr praktisch war, wünschte sich ein Wurstbrot und ich wünschte mir Schokolade. Nun war das Τeuflische aber, dass natürlich in dem ganzen Lazarett, da gab es nur Fliegerschokolade und Fliegerschokolade war mit Pervitin [Rauschmittel] versetzt, um die Flieger wach zu halten, so dass also meine Schwester ihr Wurstbrot sehr schön verzehren konnte, das wurde ihr gelassen. Aber mir wurde natürlich die Pervitin-Schokolade sofort entrissen und ich habe niemals ein Stück Schokolade probieren dürfen, denn das war ja eine „Erwachsenen-Schokolade“. Aber ansonsten habe ich noch immer den Geruch der Teersalbe in der Nase, mit der die Soldaten, wenn sie Brandverletzungen hatten, eingeschmiert waren. Die waren dann von oben bis unten schwarz angeschmiert.
Regina Wiesinger: War das nicht sehr traumatisierend oder verstörend für Sie als Kind?
Frau Kleinschmidt: Es war komisch und abstoßend.
Regina Wiesinger: Aber es gab auch ein Kaninchen.
Frau Kleinschmidt: Ja, das Kaninchen! Die Soldaten hatten ein Maskottchen, ein Kaninchen. Das Kaninchen, das hüpfte von Bett zu Bett und wurde von den Soldaten gestreichelt und unter der Bettdecke gehalten und so weiter. Eines Tages hieß es dann ja, also ihr dürft das Kaninchen mit nach Hause nehmen. Ich nehme an, dass der Arzt es dann verboten hat, dass das Kaninchen bei den Kranken von Bett zu Bett hüpfte. Und wir bekamen also dieses Kaninchen mit nach Hause. Wir waren natürlich selig, aber lange blieb das leider Gottes nicht bei uns. Nicht weil wir Kinder das nicht gewollt hätten, sondern weil die Erwachsenen eingriffen. Und eines Tages landete das Kaninchen als Kaninchenbraten auf dem Tisch. Das fand ich natürlich sehr hässlich. Und wir Kinder haben natürlich davon nichts gegessen, aber den Erwachsenen hat es wohl ganz gut geschmeckt, dass das Kaninchen dann auf diese Weise auch noch einen guten Dienst tat.
Regina Wiesinger: Sie erzählten, dass sie ja sehr nah an der damaligen deutschen Schule wohnten, am Fuße des Lykabettos und ich nehme an, dass sie auch zu Fuß zur Schule gingen?
Frau Kleinschmidt: Wir gingen zu Fuß in die Grundschule, vom Lykabettos aus zur Schule runter. Das war ein Weg, der durch das Pinienharz geprägt war. Die Luft war sehr harzhaltig. Ab und zu waren im Wald natürlich auch Insekten. Ich weiß das heute, weil das auch bei uns ein Problem darstellt. Da gibt es ein Insekt, einen „Spanner“ [Schmetterlinge] oder so ähnlich, der besonders Nadelgehölze befällt und dessen Raupen eine starke Behaarung haben und sehr gefährlich sind für Allergiker. Denn die Raupen werfen, wenn sie berührt werden, diese Haare ab und die bohren sich dann wie Brennnesselhaare in die Haut des anderen und führen zu starken allergischen Reaktionen. Also fanden wir diese Raupen sehr spannend, denn sie liefen in langen Kolonnen über den Weg und wir haben dann den Weg irgendwie mit Hölzchen und Stöckchen umgeleitet, sodass wir dann eine Raupe aus dem Verband herausnahmen und dann liefen alle anderen Raupen auch dieser Raupe nach. Also die Raupenplage, die war doch sehr deutlich.
Regina Wiesinger: Und erinnern Sie sich noch an die deutsche Schule, an die Umgebung der deutschen Schule? Sie erzählten die Geschichte, dass es dort einen Kiosk gab, einen kleinen Stand mit Süßigkeiten.
Frau Kleinschmidt: Ja, wie so üblich. Also vor Schulen etablieren sich ja gerne Süßigkeitenstände und auch vor der deutschen Schule war ein Süßigkeitenstand. Den habe ich natürlich immer betrachtet und mir jedes Mal vorgestellt, wie schön das sei, von diesem Stand mal irgendwas haben zu können. Da gab es Kaugummisorten und alle möglichen Naschereien. Aber ich wusste natürlich, das kostet Geld und ich hatte nie Geld in der Hand. Eines Tages allerdings, da hat meine Mutter, was sie sonst wohl nie tat, mir das Schulgeld mitgegeben. Ich ging also mit Geld in die Schule und gab das Schulgeld ab und zu meinem großen Erstaunen bekam ich Geld zurück. Ich wusste nicht, was das soll. Also jedenfalls, ich hatte plötzlich Geldscheine in der Hand und hatte natürlich nichts Wichtigeres zu tun, als dieses Geld am Kiosk anzulegen. Ich kaufte also endlich mal Kaugummidrops und Geleeeier [Bonbons] oder was das alles war. Also auf jeden Fall eine ganze Packung voll Süßigkeiten und ich habe das Geld ganz und gar verprasst. Und habe mich natürlich herrlich gefreut über diese ganzen Süßigkeiten. Habe sie dann auch so schnell es ging gegessen. Und als ich nach Hause kam, fragte meine Mutter “Und wo ist das Wechselgeld?” und ich sagte: “ Wieso Wechselgeld?” “Ja, wieso? Du hast doch Geld zurückbekommen. „Du musst Geld zurückbekommen haben, denn du hast mehr hingebracht, als es so nötig war.” Da kam mir die Idee, dass das irgendwie was mit diesem Geld zu tun hatte, dass ich ja nun an dem Kiosk ausgegeben hatte und sagte ja, die haben mir wohl was gegeben, aber das habe ich verbraucht. Und da kam das heraus, dass ich das ganze Geld, ich weiß nicht, wie viel das war, angelegt hatte um mir dem Bauch voll zu schlagen. Na ja, es war dann nicht sehr Vergnüglich für mich, denn die Reaktion meiner Mutter war für mich etwas schmerzhaft. Ich bekam eine Watsche [Ohrfeige] und eine entsprechende Strafe mit Hausarrest. Aber das, was ich gegessen hatte, konnte man mir nicht wegnehmen. Das war ja nun mal in meinem Bauch und es hat herrlich geschmeckt.
Regina Wiesinger: Bleiben wir bei der deutschen Schule. Für uns ist es natürlich sehr interessant zu erfahren: Haben Sie noch Bilder, erinnern Sie sich noch an Mitschüler oder Mitschülerinnen? Lehrer oder Lehrerinnen, an das Gebäude selber, an die Einrichtungen der Klassenräume. Gibt es da bestimmte Erinnerungen, die Sie haben?
Frau Kleinschmidt: Nein, nein, leider nicht. Ich weiß nur, dass ich in drei verschiedenen Schriften das Schreiben gelernt habe in Sütterlin [alte deutsche Schreibschrift], in Latein und Griechisch. Das fand ich sehr anstrengend und habe mir da drin natürlich mit dem Lesen sehr schwergetan. Das Lesen, das griechische Lesen, der griechische Buchstaben, das habe ich erst später im Gymnasium gelernt. Und Latein und die deutsche Schrift konnte ich lesen, aber mehr oder weniger schlecht. Ich habe mir das dann erst angeeignet, auf unserer Reise von Griechenland nach Deutschland, die ja acht Tage lang dauerte. Da hatte ich acht Tage lang eigentlich im Zug nichts anderes zu tun, als schon das Lesen zu üben. Und damals habe ich mir das Lesen angeeignet.
Regina Wiesinger: Sie erzählten, dass ihre Mitschüler und Mitschülerinnen, die sie in der Grundschule der Deutschen Schule hatten, ja rein deutsche Kinder waren.
Frau Kleinschmidt: Ich weiß es nicht. Ob es rein deutsche Kinder waren oder auch ein paar griechische. Ich weiß nur, dass es da einen Unterschied gab bei dem Pausenbrot. Die deutschen Kinder hatten dicke Pausenbrote mit Wurstbelag und allen möglichen Zutaten dabei. Während es bei mir üblich war, dass ich eine Handvoll Oliven und ein Stückchen Brot mit in die Schule bekam und natürlich voller Neid auf die anderen wertvollen Preziosen [Kostbarkeiten] oder die wertvollen Delikatessen der anderen Kinder schaute und dass es einen Unterschied machte, welcher Deutsche man war, ob man ein echter Deutscher, sprich also ein dem Dritten Reich verbundener Deutscher war oder ob man das nicht war, dann war man eine Art „Paria“ oder „Underdog“. Man wurde auch so behandelt, auch von den Lehrern. Es wurde ein Unterschied gemacht, ob man die Qualität bestand. 
Regina Wiesinger: Frau Kleinschmidt, können Sie sich erinnern, woran sich das bemerkbar machte?
Frau Kleinschmidt: Nein, das weiß ich nicht mehr. Das war einfach ein Gefühl gewesen und man merkte, dass man anders behandelt wurde. Aber dazu war das zu lange her.
Regina Wiesinger: Aber es muss wohl sehr deutlich gewesen sein, als Kind hat man natürlich sehr feine Antennen, dass Sie das so deutlich auch spürten und dass Sie sich heute noch daran erinnern.
Frau Kleinschmidt: Ja, ja, man hat das schon gemerkt. Man hatte nicht die Privilegien, die die anderen alle hatten. Man war wirklich jemand einer anderen Klasse. Auch wenn man deutsch war, das hat damit nichts zu tun. Man war nicht Militär, man war nicht Nazi, man gehörte nicht dazu.
Regina Wiesinger: Sie hatten auch noch einen jüdischen Hintergrund, wahrscheinlich spielte das auch eine Rolle.
Frau Kleinschmidt: Ja das war mir ja nicht bewusst, damals und das war auch sicher den meisten anderen nicht bewusst, denn mein Vater hatte es ja nicht vor sich hergetragen.
Regina Wiesinger: Aber ihr Vater war ja an der Schule als Lehrer tätig und musste dann 1935 die Schule verlassen. Also wusste die Schule wahrscheinlich vom familiären Hintergrund.
Frau Kleinschmidt: Ja, das wird wohl so gewesen sein, aber zu dem Zeitpunkt hatte mein Vater ja nicht mehr in der Schule gelehrt und hatte keinen Bezug mehr zur Schule.
Regina Wiesinger: Bleiben wir noch bei ihrem Haus in Athen. Es war ja in Athen üblich zu dieser Zeit, dass Privatwohnungen beschlagnahmt wurden, für die deutschen Wehrmachtssoldaten, war das auch bei Ihrer Familie der Fall? 
Frau Kleinschmidt: Ich nehme an, dass unsere Wohnung zu mickrig war. Die bestand ja in dem Sinne nur aus zwei Zimmern und der Wohnküche. Ich nehme an, dass sie daher nicht beschlagnahmt wurde. Also es hat sicherlich an der Qualität der Wohnung gelegen, aber wir sind nicht aus der Wohnung herausgeworfen worden.
Regina Wiesinger: Aber hatten Ihre Eltern Kontakt zu deutschen Soldaten, zu Mitgliedern der Besatzer, zur „deutschen Kolonie“, wie immer man das auch nennen will?
Frau Kleinschmidt: Ja, meine Eltern hatten öfters deutsche Soldaten zu Besuch, auch Offiziere und die fühlten sich immer sehr wohl, natürlich, weil sie in einer deutschen Umgebung waren. Wie gesagt, das war wohl die Tatsache, dass wir deutsche Kinder waren. Das hat wohl immer irgendwo gezogen. Auf jeden Fall hatten wir öfter Besuch. Die Soldaten kamen natürlich dann in ihrer Uniform an, mit ihren Koppeln [Metallschnalle des Gürtels der Wehrmachtssoldaten], die sie umgelegt hatten und wenn sie dann in die Privatwohnung kamen, dann legten sie das Koppel[schloss] ab und wir schnappten uns das Koppel[schloss] dann und haben uns das umgeschnallt und zielten?? dann stolz mit dem Militär-Koppel durch die Gegend. Und was natürlich für meine Eltern fatal war, wir hatten ein Spiel. Wir spielten Bumm, Bumm, hier ist England. Das war die Erkennungsmelodie der BBC, des geheimen Senders. Wir haben den Schlag des Big Ben nachgeahmt, der war doch sehr markant und wir fanden ihn interessant. Aber natürlich fielen sie vor Schrecken fast vom Stuhl herunter, wenn wir solche Sachen machten. Wir wurden sofort aus dem Zimmer gescheucht und zu Stillschweigen verdonnert und durften das natürlich nicht in der Öffentlichkeit machen, denn das war sehr gefährlich.
Regina Wiesinger: Definitiv. Ich kann mich erinnern, Sie haben mir am Telefon erzählt, dass unter den Wehrmachtsoldaten, die sie besuchten, sich auch jemand befand, der ein Verwandter von Lovis Corinth war.
Frau Kleinschmidt: Ein Neffe von Lovis Corinth, ja. Der war bei der Marine und war in Kreta wohl statt stationiert. Er kam eines Tages und besuchte uns und war öfters mal zu Besuch da und statt Blumen brachte er Schiffszwieback mit. Nun ist der sehr trocken, aber meine Mutter hat ihn in Wasser eingeweicht und mit Rosinen versetzt und dann gab es süßen Schiffszwieback. Also wir waren von seinem Besuch sehr angetan. Denn es hatte ja was Nützliches für uns, weil wir dann was Süßes bekamen.
Regina Wiesinger: Athen im Krieg: Sie sprachen vorhin von den Bombardements im Hafen von Piräus. Hat man das auch in der Innenstadt mitbekommen, diese Bombardements? Können Sie sich an diese Nächte erinnern? An diese Tage, in denen Athen bombardiert worden ist?
Frau Kleinschmidt: Es gab ein internationales Abkommen, dass die antiken Stätten nicht bombardiert werden dürfen. So wurden um Athen, der Innenstadt, der Akropolis und um dem Lykabettos herum sogenannte „Christbäume“ geschaltet. Das waren Leuchtobjekte in der Luft, die eine Art Abriegelung der nicht zu bombardierenden Gebiete machten, sodass also die anfliegenden Flieger wussten, das Gebiet innerhalb dieser Markierung ist tabu. Und so fielen in Athen selber keine Bomben. Wir hörten das natürlich von draußen von Piräus, aber der Lykabettos und das Athen Zentrum waren nie betroffen.
Regina Wiesinger: Auch nicht die deutsche Schule? Weil es Einträge in den Mitteilungsbüchern bzw. in den Niederschriften der Konferenzen gibt, dass auf dem Gelände der deutschen Schule Splittergräben ausgehoben wurden und dass man die Fenster verdunkelte, wenn es noch Abendkurse gab. 
Frau Kleinschmidt: Nein, nein. Das war alles Schutzgebiet. Genau wie man ja auch Rom nicht bombardiert hat. Der Kriegsbeginn, der war verbunden mit einem außerordentlich starken Anlaufen von Sirenen. Das war das erste Mal, dass ich Sirenen gehört habe und man hatte durchaus das Gefühl, das hat irgendwas mit Gefahr zu tun. Sehr viel später sagten mir dann meine Eltern, dass dieses Sirenengeheul damals der Anfang des Krieges war. Ich weiß nicht, ob das einen Angriff auf Piräus bedeutet hat. Auf jeden Fall diese Sirene, die höre ich heute noch. Und auch später in Deutschland war das natürlich immer verbunden mit dem Angriff von irgendwelchen Fliegern. Also es war immer ein scheußliches Geräusch.
Regina Wiesinger: Gab es denn Bunker in ihrer Nähe?
Frau Kleinschmidt: Nein, nein. Es gab keine.
Regina Wiesinger: Verbunden mit den Sirenen: Für sie als Kind war das sicher eine ganz andere Atmosphäre, eine Art Atmosphäre der Beklemmung, der Angst?
Frau Kleinschmidt: Ja, natürlich. Und die Eltern sagten natürlich, irgendwas Schreckliches sei passiert. Aber was, konnte ich mir nicht vorstellen.
Regina Wiesinger: Durften Sie weiterhin in die Schule gehen? Oder waren die Schulen auch geschlossen?
Frau Kleinschmidt: Wir gingen weiterhin zur Schule. Wir hatten danach eigentlich keinen „Sirenen-Anfall“ [Alarm] mehr. Also, in Athen gab es ja keine Angriffe und insofern musste man nicht warnen. Es gab also akustisch keinerlei Hinweise auf den Krieg.
Regina Wiesinger: Nur wahrscheinlich sah man das dann im alltäglichen Straßenbild?
Frau Kleinschmidt: Ja, man sah das dann an den Soldaten, die überall herumliefen und an den neuen Mitschülern, die wir bekamen. Aber in der Grundschule sah man das nicht. Jedenfalls für Kinder nicht. Wir waren ja nicht im Zentrum, sondern wir waren nur in unserer Wohnung und da gab es das nicht. 
Regina Wiesinger: Und an der beruflichen Tätigkeit Ihres Vaters, hat sich da etwas geändert? Haben Sie da etwas gemerkt, dass der Vater sagte: Jetzt wird es schwieriger, jetzt wird es gefährlicher, für mich?
Frau Kleinschmidt: Nein, bloß mein Vater hatte eines Tages die Idee, dass er wohl aus Griechenland raus muss. Und dann wollte er nach Australien oder Neuseeland um Pomologe [Obstbaukunde] zu werden, also Apfelpflücker. Ich stellte mir als Kind das ganz toll vor, die Berge voll Äpfel und das Äpfelpflücken, aber ich konnte mir natürlich nicht vorstellen, was der Hintergrund der Geschichte war. Aber mein Vater hatte manchmal sehr skurrile Vorstellungen, was er eventuell machen muss, wenn er wieder vertrieben wird. Also er war auch zu landwirtschaftlicher Tätigkeit bereit.
Regina Wiesinger: Ihr Vater hatte aber sehr gute Kontakte zu griechischen Politikern?
Frau Kleinschmidt: Ja, das war wohl auch, was ihn oft geschützt hat.
Regina Wiesinger: Er hatte Kontakte zum damaligen Kultusminister.
Frau Kleinschmidt: Ja, das war ein sehr enger Freund von ihm – Professor Louvaris [Kultusminister/Erziehungsminister, Mitglied der Quislingregierung unter Joannis Rallis 1943-1944]. Der hat ihn auch später in Deutschland besucht. Mein Vater erzählte mal, dass der Professor und seine Frau ihn in Erlangen besucht haben, da hatte er [E. Lichtenstein] einen Lehrstuhl für Pädagogik und die Frau Louvaris, die fragte ganz schüchtern: “Wo kann ich mir hier die Hände waschen?” Und mein Vater reagierte ganz normal darauf, sagte: “Da ist ein Waschbecken, bitte, da können Sie sich die Hände waschen.” In Wirklichkeit fragte sie nach der Toilette und er hat es nicht verstanden, weil so offiziell konnte sie ja nicht fragen, sondern sie fragte dann eben: “Kann ich mir irgendwo die Hände waschen?” Aber die Feinheit der Umgangsformen, das hat er dann nicht herausgehört.
Regina Wiesinger: Ähm, war die Familie Louvaris auch öfter bei Ihnen zu Hause [in Athen] eingeladen oder umgekehrt?
Frau Kleinschmidt: Nein, ich kann mich nicht erinnern. Aber er hat alle unsere Wertsachen, soweit wir welche hatten, in Griechenland zu sich genommen. Und hat die für meine Eltern aufbewahrt. Und wie er dann nach dem Krieg uns in Deutschland besuchte, da hat er sie alle mitgebracht. Plötzlich hatten wir Dinge, von denen wir gar nicht mehr wussten, dass wir sie überhaupt hatten. Denn die waren schon längst verschollen und man hatte sich gewöhnt, dass sie nicht da sind. Aber nun waren sie plötzlich da.
Regina Wiesinger: Sie verließen Athen im Jahr [19]44. Können Sie sich an den Transport erinnern? An die Situation, an die Lage [in Athen]?
Frau Kleinschmidt: Meine Mutter hatte die Vorstellung, dass wir in den Schulferien nach Deutschland fahren und unsere deutschen Verwandten vor dem Zusammenbruch warnten. Dass sie sich also in Sicherheit bringen sollten. Also fuhr meine Mutter mit uns, nur mit verhältnismäßig kleinem Gepäck, also nur Kleidung für einige Wochen und ein paar Mitbringsel nach Deutschland. Diese Reise war sehr abenteuerlich. Sie ging mit dem Zug durch den Balkan und dauerte acht Tage. Alle naselang wurde dann die Zugmaschine durch Tiefflieger zerschossen. Dann lagen wir auf der Strecke und warteten, bis eine neue Maschine wieder ankam und uns weiterbeförderte. Oder es hieß plötzlich Tieffliegerangriff, der Zug hielt auf der Strecke, die ganze Besatzung musste aus dem Zug raus. Wir krabbelten unter die Waggons und warteten den Tieffliegerangriff ab. Überall in den Waggons waren Ausschreibungen und Zeitungen: “Vorsicht, Feind hört mit!” Und da weiß ich noch als Feindfigur war eine Mannesfigur mit Bart, mit Hakennase. Sozusagen der böse Jude hört hier mit. Also seid vorsichtig, sagt nichts im Zug, was irgendwie vom Feind übernommen werden kann und ausgenutzt werden kann. Also das war sehr einprägsam. Diese Warnung, dass der Feind überall mithört.
Regina Wiesinger: Kam die Anordnung, dass die Deutschen Griechenland verlassen mussten, überraschend oder waren Ihre Eltern schon darauf gefasst?
Frau Kleinschmidt: Das weiß ich nicht. Aber eigentlich hatten meine Eltern nicht vor, sich zu trennen, sondern meine Mutter hatte natürlich vor, mit uns Kindern wieder nach Athen zurückzukehren, zum Vater. Die Familie sollte beisammenbleiben, wir waren nur als Vortrupp angewiesen, die Verwandten in Deutschland zu warnen, also seine Familie, die ja aus Ostpreußen kam, zu warnen, dass sie möglichst sich nach dem Westen begeben sollen, um dem Angriff im Osten auszuweichen. Das war meinem Vater eine sehr große Herzensangelegenheit, dass meine Mutter das fertig brachte und meine Mutter nahm uns Kinder und fuhr mit uns von Süddeutschland nach Ostpreußen. Das war heute wie eine Weltreise. Das hört sich so einfach an, man fährt nun mal mit dem Zug. Aber erstens konnte man nicht regelmäßig mit dem Zug fahren. Und zweitens, wenn man von Deutschland nach Ostpreußen wollte, da musste man durch ein Gebiet durch, das teilweise Polen war. Polen war ja annektiert, aber trotzdem natürlich im Ausland. Und das hieß der Korridor. Und dann fuhr der Zug durch den Korridor, da wurde er verplombt [verschlossen] und überall die Verdunkelung heruntergelassen. Also, der Zug fuhr sozusagen lichtlos, durch den Korridor, und erst wenn er den Korridor wieder verlassen hatte, dann wurde wieder Licht gemacht, entplombt und man konnte nach Ostpreußen fahren.
Regina Wiesinger: Das war im Jahr [19]44.
Frau Kleinschmidt: Ja.
Regina Wiesinger: Das war im Jahr 44, als sie Griechenland mehr oder weniger sehr rasch verlassen mussten.
Frau Kleinschmidt: Ja. Es war kein Zwang. Es gab keine Aufforderung, sondern wir waren allein zu einem Urlaub oder einem Besuch bei Verwandten in der Ferienzeit. Das war im Sommer. Mehr war nicht vorgesehen.
Regina Wiesinger: Frau Kleinschmidt, mich würde interessieren: Ihr Vater hatte ja eine jüdische Verwandtschaft, sein Vater, seine Geschwister, seine Cousins, Cousinen, nehme ich an, hatten einen jüdischen Hintergrund. Wusste Ihr Vater etwas vom Schicksal seiner jüdischen Familie?
Frau Kleinschmidt: Nein. Sein Vater hat nochmal geheiratet. Und aus dieser zweiten Ehe kam ein Sohn. Das war der Halbbruder meines Vaters, den er auch zur Taufe getragen hat. Also er war 21 [Jahre] als sein Halbbruder geboren wurde. Und da hat er ihn praktisch als Taufpate getragen. Aber mein Großvater war Diabetiker und hatte [19]42 oder [19]43 eine Diabetesentgleisung und wollte darin sterben. Das aber gelang nicht. Man holte ihn wieder zurück. Und daraufhin hat er gesagt: “Warum habt ihr mich nicht sterben lassen?“ Und hat sich stattdessen erschossen. Also der lebte nicht mehr.
Regina Wiesinger: Das war während des Nationalsozialismus. Das heißt, hat er das Gefühl gehabt, er ist in den Selbstmord getrieben worden?
Frau Kleinschmidt: Ja, ja und mein Onkel, also der Halbbruder meines Vaters, der war dann schon Soldat. Der durfte das Abitur machen, aber nicht studieren. Und kam als Soldat an die Front nach Frankreich und war dort die ganze Zeit in der Kompanie [Organisation] Todt. Da spekulierte man darauf, dass die Leute alle umkamen. Seine Mutter war ja eine Elsässerin. Er sprach perfekt Französisch und er tauchte ganz in Frankreich unter. Und außerdem half ihm da die Heilsarmee. Er wurde als Offizier bei der Heilsarmee aufgenommen, und die haben ihn praktisch versteckt, vor den Nazis in Frankreich, so dass er also da überlebte. Aber das wusste mein Vater ja nicht, sondern er wusste nur, dass sein Bruder verschollen ist. Und die zweite Mutter meines Vaters, die ja Elsässerin war, lebte zusammen mit der Schwester meiner Großmutter in Braunschweig, die führten ein Mädchenpensionat. Und zwar war es üblich, dass die Töchter der Rittergutsbesitzer vom Land in die Stadt gingen, in die Schule kamen und dort im Internat lebten oder im Pensionat. Also hatten sie da mehrere junge Frauen, die bei ihnen lebten, die sie erzogen und die sie bewachten und führten so ihr Leben. Und diese beiden alten Damen, die wollten partout nicht raus aus Ostpreußen. Sie dachten, “Himmler hat uns versprochen, dass wir siegen“ und glaubten “Himmler und Hitler, die haben große Versprechungen abgegeben, also da müssen wir keine Angst haben”, obwohl sie schon das Donnern der Kanonen vor Braunsberg hörten [von der Roten Armee]. Die glaubten das aber nicht. Und als meine Mutter kam und sagte: “Ihr müsst raus, die Russen kommen” dann sagten sie “Ja, du erzählst da was vom Ausland, was weißt du denn? Weißt du denn, was wirklich passiert? „Unser Himmler hat uns beruhigt, wir werden siegen, und die deutsche Wehrmacht wird uns helfen und uns beschützen.” Und wollten also partout nicht raus. Später sind sie zu Fuß über die Kriegsfelder gelaufen, um nach Westen zu kommen. Sie sind rausgekommen, aber das war dann sehr abenteuerlich.
Regina Wiesinger: Und der jüdische Teil der Familie ihres Vaters?
Frau Kleinschmidt: Der ist praktisch ausgelöscht worden. Es hat eine Cousine von ihm gegeben, die Journalistin und war mit ihrem Mann zusammen in Berlin, die waren Auslandskorrespondenten. Die gingen dann nach London, ein anderer Vetter, ging nach Japan, nach Kōbe [Japan]. Und so verloren sich so langsam alle. Entweder waren sie im Konzentrationslager gelandet, die meisten Familienmitglieder oder sie waren verstreut auf der ganzen Welt.
Regina Wiesinger: Hatte Ihr Vater dann nach dem Krieg noch Kontakt zu seiner Cousine in London?
Frau Kleinschmidt: Ja, er hat sie in London besucht und auch den Vetter in Kōbe in Japan. Denn er wurde aufgefordert, als Professor eine Bildungsreise nach Japan zu machen und da hat er dann den Vetter in Kōbe besucht. Aber es haben sich nicht weiter daraus Kontakte ergeben. Also ich selbst hatte nie Kontakt mit ihm.
Regina Wiesinger: Frau Kleinschmidt, sie bemerkten gerade, dass die Deutschen, die im Ausland wohnten, wesentlich besser informiert waren über den Kriegsverlauf als die Menschen im Reich, sozusagen in Deutschland.
Frau Kleinschmidt: Die Leute in Deutschland, im Reich wurden systematisch durch Propaganda im Dunkeln gelassen über den Verlauf des Krieges, welche Folgen es hat und wie er sich gestaltet. Also waren Sie immer noch absolut sicher: Es gibt den Endsieg, dass die verschiedenen Regionen Deutschlands wegfallen oder vielleicht von irgendjemandem besetzt werden, das konnten Sie sich nicht vorstellen. Das muss eine sehr perfide Reklame und Berieselung der Leute gewesen sein. So, dass selbst kritische Menschen nicht glauben wollten. Und meine Mutter war natürlich da ein Prophet, sozusagen in der Wüste. Sie hat gebittet und gebettelt. Sie hat ein paar Sachen, die meinem Vater selber gehörten, sozusagen aus seinem Jugendzimmer gerettet. Das durfte sie rausnehmen. Alles andere in der Wohnung, was Mobiliar oder irgendwelche Gegenstände betraf, das war absolut unmöglich. So brachte sie dann unter wirklich abenteuerlichen Umständen, wie sie das gemacht hat, ist mir heute noch schleierhaft, diese alte Truhe, dann einen Schrank und dann ein Eckschränkchen – brachte sie alles unter den schlechten Transportbedingungen, die kriegsbedingt sehr schlecht waren, die Bahn war ja nicht für jeden zugänglich, brachte sie die Sachen aus Ostpreußen nach Süddeutschland heraus.
Regina Wiesinger: Im Jahr [19]44 oder vorher schon?
Frau Kleinschmidt: Nein, nein im Jahr 44. Und die Bitte, man möge ihr doch wenigstens Sachen mitgeben, damit sie was retten kann, haben sie damit erfüllt, dass sie ihr das die ältesten Materialien, zum Beispiel verschlissene Bettwäsche oder was mitgaben, aber nichts, was sinnvoll oder was brauchbar war. Also die alten Damen, die beharrten fest darauf, Ostpreußen ist sicher und der Russe, der kann noch so nah stehen und mit den Kanonen wackeln, er wird uns nicht beherrschen.
Regina Wiesinger: Frau Kleinschmidt, noch mal zurück zu Ihrem Vater. Der ist ja länger in Griechenland geblieben. Hatten denn ihr Vater und ihre Mutter Kontakt zu deutschen Juden in Griechenland, die Griechenland als Asylland gewählt haben?
Frau Kleinschmidt: Weiß ich nicht. Das weiß ich nicht. Wie weit überhaupt der Kontakt unter den Asylsuchenden war, das weiß ich nicht.
Regina Wiesinger: Ja, verstehe ich. Ihr Vater blieb dann ja, bis zum bitteren Ende, sozusagen.
Frau Kleinschmidt: Ja, er kam mit dem letzten Truppentransporter. Dem konnte er sich anschließen, wie er das geschafft hat, weiß ich nicht, denn normalerweise haben die Truppentransporter ja keine Zivilisten mitgenommen. Aber er hat es trotzdem irgendwie hingekriegt, dass er aus Griechenland rauskam. Allerdings nur mit einem minimalen Gepäck. Also er hatte nur einen Seesack, in dem hatte er etwas Wäsche und natürlich Zigaretten. Das war das Wichtigste. So kam er mit dem Seesack über der Schulter aus Griechenland heraus. Der Truppentransporter ging aber nicht ganz bis nach Deutschland, sondern er hörte an der Grenze auf und er musste sich irgendwie durchschlagen. Weil er nach Südosten raus musste. Sodass er dann also mit seinem Seesack zu Fuß in die Nähe von Ansbach kam. Und ich weiß noch, er kam aus dem Wald heraus und meine Mutter, die hat uns sofort angehalten.
“Ihr dürft aber gar nichts sagen.“ Es war ja noch nicht der Zusammenbruch da, sondern wir durften gar nicht wissen, dass unser Vater hier ist. 
Regina Wiesinger: Es war ja das reinste Todesurteil für ihn, zurückzukehren nach Deutschland. 
Frau Kleinschmidt: Überall lauerten Leute, die Informationen sammelten. Also es war natürlich sehr gefährlich. Und er musste jetzt so lange warten, bis dann der Zusammenbruch, wirklich die Kapitulation Deutschlands geschah. Dann erst konnte er sich öffentlich zeigen.
Regina Wiesinger: Wie macht er das? War er in der Nacht bei Ihnen und tagsüber versteckte er sich?
Frau Kleinschmidt: Er versteckte sich überhaupt den ganzen Tag und Nacht in den Wäldern. Nun ist dieser Bereich ein sehr waldreicher Bereich mit vielen kleinen Ortschaften. Also es ging wohl ganz gut, aber wir durften gar nichts davon wissen. Also meine Eltern hatten auch keinen Kontakt, bis der Zusammenbruch da war, dann erst konnte er auftauchen.
Regina Wiesinger: Gut, jetzt sind wir bei dem Zeitpunkt der Kapitulation im Mai 1945, das ist ja die Rettung sozusagen für Ihren Vater. Und was bedeutet das jetzt für Ihren Vater?
Frau Kleinschmidt: Er konnte endlich in der Öffentlichkeit auftauchen. Dann war aber natürlich für ihn kein Auskommen. Er konnte ja nicht berufstätig werden. Und er hat dann eine Weile mit den Amerikanern zusammengearbeitet. Dann setzten die großen Ströme der Menschen, die rehabilitiert werden wollten, ein.  Die also nichts mit dem Dritten Reich zu tun haben wollten. 
Regina Wiesinger: Der Prozess der Entnazifizierung und Reeducation?
Frau Kleinschmidt: Da standen die Leute dann richtig Schlange bei meinem Vater, um sich die Bescheinigungen zu holen, die man damals „Persilschein“ nannte, Bescheinigungen, dass sie also wenn, dann nur kleine Lichter im Dritten Reich waren, am besten gar nicht leuchteten, sondern ganz im Dunkeln saßen. Es kamen verschiedenen Gruppierungen, die meinen Vater fragten, ob er nicht bei ihnen arbeiten wollte, weil sie ohne das Vorhandensein eines Unbelasteten nicht arbeiten konnten und nicht aufmachen konnten. Die Amerikaner, die ja den Süden beherrschten, als Militärmacht, die hatten ein großes Sendungsbewusstsein, also die Deutschen, diese militärisch ausgerichteten Menschen mussten umerzogen werden. Das haben sie nicht in Umerziehungslager gemacht, sondern haben einfach bestimmt: Es können alle Institutionen erst eröffnet werden, wenn entsprechend unbelastete Leute daran teilnehmen. So kam die Deutsche Gesellschaft für Geschichte bei meinem Vater an, auch das Goethe Institut fragte an. 
Regina Wiesinger: Die deutsche Akademie, mit der er zusammengearbeitet hat in Kavala? 
Frau Kleinschmidt:…und fragte an, ob mein Vater bereit wäre, bei ihnen Mitglied zu werden und sie damit die Möglichkeit hätten, neue Mitglieder zu generieren und zu arbeiten. Und unter anderem war auch die Universität von München. Da hatten wir dann doch die Möglichkeit, unter diesen Umständen irgendwie aus dem dörflichen Kontext herauszukommen. Denn für meinen Vater gab es da je kein unterkommen [keine geeignete Arbeitsstelle] und er wollte wieder in die Stadt. Er wollte also nach München und wir kriegten dann auch eine Wohnung in München. Erst in Harlaching und später in Bogenhausen. In Harlaching war das so, das ist ein reiner Villenort, ein sehr beliebter, bekannter Villenvorort von München. Da wurden wir einem Mann in sein Haus gesetzt, der sich Pomologe nannte. Er hatte einen Apfelbaum und zum Amüsement meines Vaters, der sich über solche Sachen herzlich amüsierte, nannte er sich Pomologe, also ein Obstkundler. Dort wurden wir einquartiert in eine drei Zimmer Wohnung. Und zu dieser Zeit stieß dann plötzlich die Verwandtschaft, die aus Ostpreußen nicht mitgehen wollte, aber dann vertrieben war, zu uns. Denn als die Russen langsam nach Ostpreußen reinkamen und die Wehrmacht sich zurückzog, da hat die Wehrmacht die deutsche Bevölkerung unter ihre Fittiche genommen und aus Ostpreußen herausgenommen. Also mussten die alten Damen, ob sie wollten oder nicht, ihr Hab und Gut verlassen, mussten wegwandern und landeten dann bei uns in München. Und plötzlich tauchte auch mein Onkel, also der Halbbruder meines Vaters, der aus Frankreich sich gerettet hatte, in München auf.
Also plötzlich wurde die Familie immer größer und größer. Und zu dem Unglück kam noch, dass die Amerikaner feststellten, dass Harlaching ein wunderschöner Vorort ist, den brauchten sie für ihre Soldaten. Also haben sie beschlossen, alle Deutschen aus Harlaching auszuquartieren. Sie haben in einer Nacht- und Nebelaktion um Harlaching einen Gürtel aus Stacheldraht gelegt. Und jeder Familie, die dort wohnte, den Befehl gegeben, “ihr müsst raus”. Jeder durfte einen Stuhl mitnehmen, ein Bett, zwei, je einen Tisch und einen Schrank. Mehr nicht. Alles andere muss in den Häusern als Mobiliar zurückgelassen werden, weil ja die Offiziere auch irgendwo leben mussten. Also wurden wir von einem Tag auf den anderen aus Harlaching rausgeschmissen und wurden dann in Bogenhausen zu einem Mann einquartiert, der eigentlich ein glühender Nazi gewesen war und der eine Wohnung an einen General der Wehrmacht vermietet hatte. Und dieser General wurde aus der Mietwohnung rausgesetzt und wir sind stattdessen eingezogen, was natürlich weder der General noch der Hausbesitzer schön fand.
Regina Wiesinger: Wahrscheinlich auch ihr Vater nicht, für den musste das ja sehr schmerzhaft gewesen sein.
Frau Kleinschmidt: Natürlich nicht, aber wir mussten ja irgendwo unterkommen.
Und wir waren ja jetzt schon eine sehr große Familie. Damals kam der Rektor der Universität zu meinem Vater. Mein Vater ging an die Universität, er wollte sich habilitieren in München. Und dann bemerkte der Rektor, dass mein Vater unbelastet war. Einer der wenigen Unbelasteten und fragte: “Können Sie sich nicht für Philosophie, für Pädagogik habilitieren?”
Und dann sagte mein Vater: Na ja, gut. Εr habilitiert sich für Philosophie und Pädagogik.
Und hat sich natürlich mehr dem klassischen Prinzip der Pädagogik verbunden gefühlt, als dem später experimentellen und er hat sich für Pädagogik habilitiert, und daraufhin konnte die Universität München aufgemacht werden, konnte also Studenten aufnehmen und den Lehrbetrieb aufnehmen. Er hat dann später einen Lehrstuhl in Erlangen bezogen, ein extra Ordinariat in Erlangen und war da ein paar Jahre tätig, bis er dann sowohl nach Berlin wie nach Mainz und nach Münster einen Ruf an eine Hochschule bekam.
Und hat sich dann aber für Münster entschieden und ging als Ordinarius für Pädagogik nach Münster. In der Zwischenzeit aber verstarb meine Mutter. Sie hatte Brustkrebs und starb daran, sodass er also als Witwer loszog. Er hat dann meine Schwester mitgenommen nach Münster und mich in München gelassen, im letzten Abiturjahrgang.
Regina Wiesinger: Also wir sprechen vom Jahr [19]53/54?
Frau Kleinschmidt: Ja, da ging er nach Münster und da war er sehr erfolgreich und hatte einen sehr großen Studentenkreis. Er war auch Berater des Staates. Also des Kultusministeriums, zum Beispiel in der Lehrerbildung. Dort hat er die Berufsschule für Lehrerbildung aufgebaut.
Regina Wiesinger: Welches Bundesland ist Münster?
Frau Kleinschmidt: Das ist Nordrhein-Westfalen. Da war er dann häufig mit dem Kultusminister zusammen und hat da eine beratende Funktion ausgeübt.
Regina Wiesinger: Das war auch in den 50er und 60er, das heißt, er hat sich auch in den 50er Jahren noch sehr aktiv in Bezug auf Reeducation und der Entnazifizierung engagiert und gearbeitet?
Frau Kleinschmidt: Ja. Die Wiederherstellung eines Erziehungsprogramms der Oberschulen und der Berufsschullehrer, das hat er in Nordrhein-Westfalen initiiert.
Regina Wiesinger: Hat er darüber geredet, generell, hat ihn das beschäftigt, diese Entnazifizierungswelle? Hatte er beobachtet, dass man eigentlich nicht sehr erfolgreich ist bei dieser Entnazifizierung, dass es noch sehr viele Nazis gerade an der Universität, im Wissenschaftsbetrieb gab, dass es da also eine Kontinuität gab? Hat er darüber irgendwie geredet, zu Hause, hat ihn das belastet?
Frau Kleinschmidt: Natürlich war das auch klar, dass viele Nazis untergetaucht sind. Sie haben sich ein weißes Mäntelchen übergeworfen und haben teilweise durchaus ihren Weg gemacht. Aber er hat sich dann politisch nicht sehr aktiviert. Er ist dann der SPD beigetreten, er ist Mitglied der SPD geworden.
Regina Wiesinger: War er auch politisch aktiv?
Frau Kleinschmidt: Nein, er war nicht politisch. Er war kein politischer Mensch. Er hatte wohl an der Universität natürlich Universitätspolitik gemacht, aber sonst nicht.
Regina Wiesinger: Ich nehme an, dass ihm die Sensibilisierung [die kritische Aufarbeitung der ΝS-Vergangenheit] und das Demokratiebewusstsein bei seinen Schülern wahrscheinlich wichtig war?
Frau Kleinschmidt: Ja, ja, er war dann auch Dekan, also da war er durchaus einflussreich.
Regina Wiesinger: Dekan in Münster an der Universität. Frau Kleinschmidt, wie ging es dann bei Ihnen weiter? Sie haben ja sozusagen Schulerfahrung, sowohl an der Deutschen Schule Athen während des Krieges als auch unmittelbar nach dem Krieg. Wollen sie uns was dazu erzählen, über ihre Schulzeit, Gymnasialzeit in Deutschland?
Frau Kleinschmidt: Ja, als wir dann nach Deutschland kamen, da kam ich natürlich auch wieder in die Schule. Und zwar in eine Zwergschule auf dem Land, das war eine Schule mit vier Klassen in einer. Da waren also verschiedene Klassenstufen in einem Raum und wurden so unterrichtet. Ich habe das ganz lustig empfunden. Jedenfalls hat es mich nicht weiter gestört. Aber natürlich tat das meinem Bildungsweg nicht unbedingt gut. Aber nun hatte ich das Glück, dass die zweite Frau meines Großvaters, die aus Lothringen stammte und da war sie Erzieherin gewesen, die war zu uns aufs Land gezogen.
Regina Wiesinger: Wie hieß die zweite Frau Ihres Vaters [gemeint ist der Großvater]
Frau Kleinschmidt: Die hieß Lehnig, Clara Lehnig, und sie nahm das dann in die Hand und machte mit uns Diktate und Leseübungen und so weiter. Also das, was ich in der Schule nicht mitbekam, das wurde dann sozusagen in einem Zusatzunterricht von ihr privat zugefügt, sodass wir ganz gut lesen konnten und dann auch die Rechtschreibung lernten. Wir haben sie dann später immer wieder geärgert, wir sagten: “Ach, erzähl uns doch von deiner Jugend, liebe Oma. Was war denn da alles los?” Und dann erzählte sie und lustigerweise war ein angeborener Neffe von ihr, einer der später Millionär wurde. Der war ein sehr cleverer Geschäftsmann, der 1:30:40: wirklich aus „Dreck“ Apfelgelee machte. Der hatte also in der Nachkriegszeit die tollsten Ideen, wie man zu Geld kommen konnte und hat einen riesigen Handel mit Mineralwasser aufgezogen. Also das war damals deutschlandweit eigentlich ein gängiger Begriff der Quellen-Lehnig. Der Lehnig, der hat sich also einen Handel aufgezogen, in dem man Mineralwasser verkaufte, aber auch Bier und Limonade. Den Leuten im Ruhrgebiet, im Ruhrpott stellte er einen Kasten Limonade hin und sagte: “Ihr müsst nichts bezahlen, nur wenn ich ihn abhole und ihr ausgetrunken habt, dann zahlt ihr“. Das schlug natürlich wie eine Bombe ein. Da hat er einen unheimlichen Umsatz gehabt. Mit Wasser, mit Limonaden und mit Bier.
Regina Wiesinger: Im Wirtschaftswunder war das?
Frau Kleinschmidt: Ja, das war wirklich ein Wirtschaftswunder. Und wie er aber sagte: “Ich nenne mich Quellen-Lehnig”, da hat der Heilquellen Verband sich dagegen gestemmt und gesagt: “Du darfst dich nicht Quellen-Lehnig nennen, du hast nichts mit uns Heilquellen zu tun.
Das war der einzige Nackenschlag, den über sich ergehen lassen musste. Aber mein Vater hat ihn hemmungslos bewundert. Wie er das macht. Gott, er selbst hätte das nie gekonnt. Er war überhaupt kein Geschäftsmann. Er konnte das gar nicht. Also von wegen spekulieren.
Und das war ihm völlig fremd. Aber dass da jemand war, der so viel Geld machte, und der Quellen-Lehnig, der war sehr stolz darauf, dass er den Verwandten hat, der Professor war an der Universität. Also der schmückte sich mit ihm, und mein Vater war wieder sehr stolz, dass er einen Millionär kannte. Manchmal lud er ihn auch ein und das war immer sehr opulent. Wenn der zu Besuch kam, dann hat der alle möglichen Sachen aufgefahren, und er wohnte in der Schweiz, in Lugano, und daher fuhr mein Vater auch sehr gerne nach Lugano, weil dann wurde er natürlich hofiert und es war einfach mal was anderes.
Regina Wiesinger: Frau Kleinschmidt, sie haben ja sehr lange in Ihrer Familie nicht darüber geredet, über die Zeit in Griechenland, über die Zeit des Nationalsozialismus, über die Leiden, die Ihre Familie erleben mussten. Wie erklären Sie sich, dass es so lange gedauert hat?
Frau Kleinschmidt: Wir waren natürlich als Kinder informiert, aber es wurde nicht im Einzelnen erzählt, was nun gezielt passiert ist. Zum Beispiel mit den Vernichtungsstätten, aber natürlich wussten wir, dass Gräuel passiert sind. Und dass die Menschen ermordet wurden und nicht normal gestorben sind. Das war uns schon klar. Aber über die eigentliche Verfolgung, das war ja vorbei. Da hat mein Vater dann nicht mehr zurückgeblickt. Sondern für ihn war wichtig, vorwärts zu schauen und nicht rückwärts. Insofern hat er auch nie haßvoll [haßerfüllt] von diesen Leuten gesprochen, nur hat er mit ihnen keinerlei Kontakt gehalten. Also wer die Maximen des Dritten Reichs verteidigte, der war für ihn ein No-Go, er existierte nicht. Aber das war nun explizit immer in regelmäßigen Abständen. Er erzählte uns schon wie die Verwandtschaft umgekommen ist. Wenn mal die Rede von irgendjemanden war, der aus der Verwandtschaft umgekommen war, dann hat er ganz lakonisch gesagt: Ja, der ist auch im Vernichtungslager umgekommen. Aber nun, so ganz herausgehoben hat er niemanden.
Regina Wiesinger: Haben Sie das Gefühl gehabt, er spricht auch deshalb ungern darüber, weil gerade die 50er und 60er Jahre eine Atmosphäre schufen, wo man nicht darüber sprechen konnte in Deutschland, weil man sich nicht gerne daran erinnerte?
Frau Kleinschmidt: Das hat bei ihm keine Bedeutung gehabt. Er hat uns aufgeklärt, wir wussten über die Verwandtschaft positiv und negativ, wir wussten, dass alles getaufte Christen waren. Da war diese lächerliche Trennung, die machte einen zum „Volljuden“, „Halbjuden“ und „Vierteljuden“. Er hat sich darüber amüsiert, zu welchem Bruchteil wir das waren. Sonst hat er nicht darüber gesprochen. Er war ja auch in Palästina. Er hat eine Reise dorthin gemacht.
Regina Wiesinger: Wann war das? noch während des Krieges oder danach?
Frau Kleinschmidt: Nein, nein, da war es schon Professor. Vor dem Krieg war er ja auch in Palästina. Aber nach dem Krieg, also nachdem der palästinensische [israelische] Staat ausgerufen war und viele Juden hingezogen waren, da war er noch mal dort.
Regina Wiesinger: Über den Konsens [den Holocaust zu verschweigen] damals in Deutschland, in den 50er und 60er Jahren bis zur Studentenrevolte, würde ich mal sagen, dass man darüber nicht gesprochen hat, über den Holocaust.
Frau Kleinschmidt: Ja, ja.
Regina Wiesinger: Hat ihn das belastet?
Frau Kleinschmidt: Nein. Es war nur selbstverständlich, dass wir alle wussten, dass es das gegeben hat. Und wir wurden auch nicht von Bildern geschont, die man dann so langsam sah, auch im Fernsehen. Wenn die Amerikaner in die Lager reinkamen und dann die Berge von Leichen sahen. Davor wurden wir natürlich nicht geschont. Uns war das alles selbstverständlich, aber es war unverkrampft.
Regina Wiesinger: Sicherlich auch traumatisierend für sie als junge Frau?
Frau Kleinschmidt: Nein, das hat mein Vater sehr gut verstanden. Wir waren nicht traumatisiert. Man wusste, was los ist, aber ich wäre nie auf die Idee gekommen, jetzt jemandem nach dem Mund zu reden, der nach der Masche des Dritten Reiches das Ganze verniedlicht hat. Und ich bin später ein paar Mal angeeckt [Anstoß erregt], wenn andere die Gräueltaten alle so verherrlichten. “Und es war ja noch nicht so schlimm, und das war ja nicht so gemeint” und so weiter. Dann habe ich ganz dagegen Position bezogen. Militarismus fand ich nicht herrlich und ich werde auch die Gräueltaten des Krieges nicht vergessen. Zum Beispiel der Mann meiner Tante, der Schwester meiner Mutter, der war Eisenbahner und war im Krieg an der Ostfront. Er erzählte, was er da erlebt hat, als Eisenbahner und als Krieger. Wenn das alles mal auf uns zurückfällt, dann Gnade Gott.
Regina Wiesinger: War er eingesetzt bei den Transporten, bei den Deportationen?
Frau Kleinschmidt: Die Deportationen, die waren ja da gar nicht so wichtig an der Ostfront. Da ging es darum, wie die Soldateska die Russen behandelte.
Regina Wiesinger: Die russischen Gefangenen?
Frau Kleinschmidt: Ja, nicht nur Gefangene, sondern auch die Zivilbevölkerung. Das ist fürchterlich. Und wenn dann die Verherrlichung von manchen kam, ist alles unvorstellbar, diese Zweischneidigkeit.
Regina Wiesinger: War es Ihrem Vater ein Anliegen, weil er ja eben im Schulbereich tätig war, in der Pädagogik tätig war, dass eine Bewusstseinsbildung, eine Sensibilisierung bei den Studenten geschaffen wurde, dass das Thema thematisiert wurde an der Universität?
Frau Kleinschmidt: Soweit es in den Kontext passte, ja, aber normalerweise ist ja so ein Studium der Pädagogik auch ein historisches. Also betrachtet man einige hervorragende Persönlichkeiten wie Melanchthon oder Pestalozzi, also die haben ja in dem Sinne nichts mit der Geschichte des Dritten Reiches zu tun. Da war er natürlich wesentlich mehr historisch angelegt. Das war für mich ganz interessant. Seine zweite Frau war ja Professorin für Schulpädagogik. Die Frau Ilse Lichtenstein-Rother. Sie hat promoviert, aber hat es nie eingereicht. Sie war an der Universität Augsburg, was er ein bisschen beneidet hat, denn da war er ja schon Emeritus. Dass sie also einen Ruf nach Augsburg bekam, denn die Schulpädagogik, das war für ihn sozusagen ein Ableger, ein bisschen belächelt, der Ableger, der nichts mit Wissenschaft zu tun hatte. Überhaupt die Schule, die Lehrerbildung, in den Akademien war für ihn, ja sicher gibt es sie, und sie hat auch ihre Berechtigung, aber mit der Universität kann sie sich doch nicht messen. Ja, da hatte er so einen gewissen Dünkel, das war nicht auf der gleichen Ebene. 
Regina Wiesinger: Da war er der Theoretiker. 
Frau Kleinschmidt: Für ihn war da nicht der gleiche Wissenschaftsanspruch. Und die [Ilse Lichtenstein-Rother] hat natürlich wieder ihre akademische Fachtätigkeit mehr fachbezogen gemacht, also die frühkindliche Erziehung. Sie war eher praktisch orientiert. Das hat meinen Vater überhaupt nicht interessiert. Oder wie gestaltet man den Unterricht, wie kann man das interessant machen? Wie kann man Jugendliche dazu anregen, dass sie Interessen vertreten und auch ausführen? Und so weiter. Das war für meinen Vater eher zweitrangig. Ja, Didaktik. Das war das Handwerkszeug, aber das niedere – das hohe (Handwerk) war seines. Die spannende Ideen Platons, die Wissenschaften von Aristoteles, ja, das war sein Gebiet. Er hat der Pädagogik einen akademischen Überbau gemacht und war nicht für die Praxis angelegt. Bei unserer Erziehung, bei seinen eigenen Kindern, da hat er mehr aus dem Gespür herausgearbeitet. Er war jemand, der sofort ansprach, wenn man Interesse hatte und die irgendwie auch in seine Richtung gingen, dann gab er einem natürlich die Möglichkeit, dieses möglichst intensiv zu verfolgen und gab einem auch Lehrmaterial an die Hand.
Regina Wiesinger: Wie haben Sie denn Ihren Vater erfahren? Empfunden als liebevollen, verständnisvollen oder strengen autoritären Menschen? Unnahbar?
Frau Kleinschmidt: Nein, nein. Aber es war so, als ich in die Schule ging, da hatten wir eine Wohnung, die eine große Glastür zwischen seinem Arbeitszimmer und unserem Wohnzimmer hatte. Er arbeitete immer in der Nacht. Also vor zwei, drei ging er nie ins Bett, aber natürlich stand er auch nicht um acht Uhr auf. Nun war da die Glastüre, es hing ein Vorhang an der Tür, aber man konnte natürlich darüber hören. Ich höre immer noch meine Mutter ununterbrochen am Zischen “Vater schläft” und ewig hieß es man darf sich nicht bewegen, man darf bloß nicht laut reden, man darf nicht lachen. Um Gottes Willen, der Vater wird wach. Vater schläft in der Früh. Dafür war er dann nachts ewig am Arbeiten. “Vater arbeitet jetzt. Du kannst ihn nicht stören.” Dann war der Raum voller Qualm. Man konnte kaum atmen da drin. Da saß er und er hatte eine sehr kleine Schrift und schrieb und schrieb und schrieb. Es ist also immer irgendwo Rücksicht auf den Vater genommen worden. Entweder arbeitet er oder er schläft. Meine Mutter war mehr der Praktiker, sie hat also das Leben mehr gehändelt. Ich glaube, da ist er ganz gut gefahren mit ihr.
Regina Wiesinger: Und auch mit seiner zweiten Ehefrau?
Frau Kleinschmidt: Ja, obwohl das natürlich für mich erst mal traumatisierend war. Das ist eine andere Geschichte. Ich meine, es ist eine sehr honorige Frau gewesen und alles, aber es war klar, dass er meinte, sie möglichst in die Familie einzubinden, indem er von uns verlangt hat, dass wir Mutter zu ihr sagen und dagegen habe ich mich immer gewehrt. Wie gesagt, ich habe eine Mutter gehabt. Ich redete sie nie mit Mutter an. Da hat er überhaupt kein Gefühl dafür gehabt, dass das nicht geht. Sie war 17 Jahre jünger, wie er, sie war eine ganz attraktive Frau, so ein klein bisschen jungfräulich war sie, aber so klug wie mein Vater war sie nicht. Und sie war auch nicht die adäquate Gesprächspartnerin, wie meine Mutter es war. Meine Mutter muss eigentlich außerordentlich intelligent gewesen sein. Leider konnte sie das in der Schule und in der Bildung nicht beweisen und nicht ausführen. Man muss sich vorstellen, wie wenn ein Autodidakt sich Kant und seine Theorien vornimmt und die auch noch versteht. Ja, und sie hat das gemacht, also war sie eine adäquate Partnerin. Aber sie hatte natürlich nicht den Schliff, wie er es hatte. Diese Partnerschaft hat er mit der zweiten Frau nicht so gehabt. Sie war auf ihrem Weg ja auch sehr erfolgreich. Sie war auch Professorin, hatte den Titel und hatte einen Lehrstuhl, aber natürlich an der Pädagogischen Hochschule und nicht an der Universität. Das war ein Unterschied, ein gradueller. Also für meinen Vater wäre es absolut nicht in Frage gekommen, dass seine Kinder nicht studieren. Also insofern kann man das als eine gewisse Hochnäsigkeit nehmen, denn es gab bestimmte Dinge, da gab es keine Diskussion darüber, die wurden gemacht. Man behandelt keinen Menschen falsch, man behandelt alle freundlich, egal ob das die Putzfrau ist oder die Professorin Gattin. Die werden alle gleich höflich behandelt. Man schafft sich einen Bildungsstand an, man versinkt nicht irgendwo in irgendwelchen primitiven Dingen. Und bei mir natürlich, man studiert. Also es gehört die maximale Bildung und Bildungserziehung dazu. Das war für ihn ein Muss.
Regina Wiesinger: Sie sind dabei einen sehr eigenständigen Weg gegangen.
Frau Kleinschmidt: Ja, natürlich. Während meine Mutter, die hätte das natürlich gerne gekonnt und hat uns immer schwer vorgeworfen, wenn wir mal wieder lamentierten über diese blöde Schule und so “Was fällt euch eigentlich ein, blöde Schule zu sagen? Seid froh, dass ihr in die Schule gehen könnt.“ Für meinen Vater war das selbstverständlich. Hast du was anderes gewollt? Wolltest du vielleicht nicht Abitur machen? Kommt nicht in Frage, da gab es keine Diskussion. Und dass ich nun ganz auf die Naturwissenschaften und auf die Medizin gezogen bin, hat meinen Vater ein bisschen erschüttert. Er fand es einen Abstieg. Obwohl in seiner Familie selbstverständlich Naturwissenschaftler waren. Auch ein Vetter von ihm, der war zum Beispiel daran beteiligt, an der Entwicklung des TNT [Trinitrotoluol, Sprengstoff]. Er war Chemiker in München, ein Herr Löwenstein, und war durchaus erfolgreich. Aber Medizin, das fand er keinen Wissenschaftsbereich. Aber ich wollte schon immer Medizin machen. Wie gesagt, nicht aus humanitären Gründen, nicht weil ich den Menschen helfen wollte, das war nie der Grund. Mich interessierte einfach, was alles in der Medizin drinsteckt. Dass es praktisch kaum einen Wissenschaftsbereich gibt, der keine Verortung in der Medizin findet. Das hat mich immer sehr interessiert.
Regina Wiesinger: Sie waren eine der wenigen weiblichen Studentinnen damals.
Frau Kleinschmidt: Ja, wenige kann man nicht sagen.
Regina Wiesinger: Aber eine der ersten Anästhesistinnen, in einem sehr männerdominierten Berufsfeld.
Frau Kleinschmidt: Ja, also am Ende meines Studiums, da las ich irgendwas über Anästhesie und fragte meinen Professor: Was ist das denn? Und er konnte mir keine Auskunft geben. Das ist was, damit man keine Schmerzen spürt. Auf jeden Fall war das sehr ominös und sehr dunkel, was mir da gesagt wurde, und da habe ich mir gedacht, das ist anscheinend ein Feld, das noch nicht so beackert ist im Gegensatz zur Chirurgie, Gynäkologie oder Orthopädie. Also das ist was ganz Neues. Das ist interessant. Und insofern habe ich dann nach dem Staatsexamen sehr früh die Idee gehabt, dass ich diese Ausbildung, diese Fachrichtung mache. Dann war ich in Süddeutschland und kam ich nach Würzburg. Und da war gerade ein Wechsel, da war einer aus Mainz gekommen, und der hatte gewisse Schwierigkeiten, dort Fuß zu fassen.
Weil die Tendenz immer noch so war: Es gab noch immer vom Krieg her Schwestern, die die Narkose machten. Narkoseschwestern, das war das Übliche. Und es gab wenig Ärzte, die nur Narkose machten. Da gab es eine in München, die fast alle Anästhesisten ausgebildet hat.
Und der Anästhesist hatte Schwierigkeiten in Würzburg. Die sagten “Ja, wir hatten ja einen Anästhesisten, aber der hat uns immer reingequatscht, was wir zu tun haben, was für Operationen, wie wir uns verhalten haben. Also den haben wir rausgeschmissen. Mit dem konnten wir überhaupt nicht. Hoffentlich sind sie jemand, der den Mund halten kann.”
So war also sein Empfang und so hat er es weitergegeben. Und ich war nämlich ziemlich seine erste Schülerin, also sagte er zu mir: “Frau Lichtenstein, reden Sie nicht viel rein, sondern tun Sie.” Ich habe mich darangehalten. In der Ausbildung lernte ich intubieren, lernte mit den Medikamenten umzugehen, aber dann wurde ich sehr schnell „rausgeschmissen“ auf Felder, die eigentlich normalerweise ausgebildete Ärzte bedienen. So wurde ich dann abgesondert und wurde in die Kieferchirurgie geschickt und die waren spezialisiert auf die operative Regulierung von Kindern mit einer Gaumenspalte. Also, die eine Missbildung im Mundbereich hatten, die nicht reden, manchmal auch nicht essen konnten, weil ihnen die Sachen überall hinkamen, weil der Gaumen nicht geschlossen war. Die waren Leute, die plastische Chirurgie machten und das war sehr, sehr schwierig, weil sowohl das Operationsfeld, wie mein Aktionsfeld das gleiche waren und ich musste Kleinstkinder behandeln, also zwei, drei Monate alte Kinder und habe da die Voraussetzung für die Narkose machen müssen und gleichzeitig aber musste ich verschwinden für den Operateur, denn der war ja auch da dran, der wollte in dasselbe Feld rein. Also kroch ich unter den Operationstisch und habe von da aus dann meine Maschine bedient, sodass der oben arbeiten konnte. Das waren teilweise wirklich absurde Situationen. Da habe ich wirklich Blut und Wasser geschwitzt. Aber ich habe mich durchgebissen und ich bin durchgekommen und wir haben uns gut verstanden. Es war kein Streit zwischen den Chirurgen und mir. Mein Chef sagte dann später zu mir, „dass hätte er bei einem Arzt, der erst ein halbes Jahr lang eine Ausbildung im Fachbereich hat, nie gewagt, außer bei mir“. Mich hat er ins kalte Wasser geschmissen. Aber was für Nöte und Ängste, die ich damals ausgestanden hab, das hat er natürlich nicht gewusst. Die Intensivstationen, die gab es natürlich auch, die wurden von den Chirurgen oder von den Internisten bedient. Für mich waren die chirurgischen Stationen interessant. Aber die Chirurgen sagten, “wenn ihr jemanden beatmen müsst, könnt ihr ihm gleich einen Sarg hinstellen. Das schafft er nie.” Und wir sagten: “Wir sind die Anästhesisten wir schaffen das.“ Sie haben bloß immer höhnisch gelächelt und haben uns machen lassen. Ich war damals in Würzburg. In Würzburg war es ein Endemiegebiet für Tetanus. Also ich habe so viel Fälle gesehen, wie man sonst nie sieht. Jetzt gibt es in ganz Deutschland, glaube ich nicht mehr die Tetanusfälle. Da haben wir angefangen, die Leute zu relaxieren, also zu lähmen, zu beatmen und langsam genau zu überwachen und sie langsam von diesen Krämpfen zu lösen, die der Tetanus ausmacht. Die sind sehr schmerzhaft. Und das Ganze zu einem Heilungsprozess zu bringen, das waren wochenlange Behandlungen. Die Chirurgen haben immer um die Ecke geschaut, ob wir nicht jetzt schon wieder einen Sarg brauchen. Aber wir haben sie durchgekriegt. Da habe ich sehr viel gelernt. Und damals fingen wir auch an, spezielle Schwestern für den Intensivmedizin auszubilden. Da habe ich dann auch bei den Schwestern Ausbildung mitgemacht, denn das sind Bereiche, wo ganz besondere Fähigkeiten benötigt werden. Und insofern war ich ganz froh, dass ich da also praktisch an der Krippe war, wo sozusagen die Medizin anfing. Und wir haben uns damit glaubwürdig gemacht. Wir sind nicht die Narkoseschwestern, die ihre Tropfen, ihre Äthernarkosen machten, sondern wir sind Spezialisten. Und die Chirurgen haben das dann so langsam gelernt, dass sie ohne uns nicht weiterkommen, ohne Anästhesist kann kein Chirurg leben.
Regina Wiesinger: Ja, heute ist es undenkbar. 
Frau Kleinschmidt: Ja. Aber wir mussten uns damals wirklich knallhart durchbeißen. Damals war es so, dass fifty fifty oder zwei drittel, ein drittel. 2/3 waren es Frauen und 1/3 waren es Männern. Das war ein ganz junges Fachgebiet. Die Männer kannten das eigentlich gar nicht und sie fanden ein Gebiet, dass aus einer Schwesternarbeit entstanden ist, das ist doch nichts für einen Mann. Also ein gestandener Mediziner, der fängt doch nicht Schwesternarbeit an.
Es wurde abgewertet. Aber trotzdem die Leitungen und die Führungen in den Anästhesieabteilungen und dann gab es langsam auch Lehrstellen für Anästhesisten und eigene Professuren, die machten alle die Männer unter sich ab und haben die Frauen restlos rausgedrängt. Also das ist auch heute noch so, dass es verhältnismäßig wenig Professorinnen auf den Lehrstühlen gibt. Man fand mehr Männer auch auf Chefarztstellen, aber die Arbeit haben dann die Frauen gemacht und das hat mich eigentlich fürchterlich geärgert und ich wollte mich ursprünglich mal habilitieren, aber da kam dann Familiengründung und Kinder usw. dazwischen und man lässt es dann sein.
Regina Wiesinger: Aber im Endeffekt haben Sie ja einen wesentlichen Beitrag dazu geleistet, dass die Anästhesie ein eigenständiger Fachbereich wurde.
Frau Kleinschmidt: Das weiß ich nicht. Da will ich mich nicht mit Federn schmücken. Sagen wir mal ich war bei den ersten mit dabei. Ob ich eine Leistung gebracht habe, das kann ich nicht sagen. Ich habe das so gut gemacht, wie ich konnte. Aber eine herausragende Stellung habe ich nicht eingenommen. Später habe ich geheiratet, eine Familie gegründet und wir sind dann nach München, nach Bad Dürkheim gekommen. Da wie gesagt, hat ja die Krankenhausverwaltung sofort meinen Mann angesprochen, ob ich nicht die Schwesternschule übernehmen möchte. Das habe ich dann gemacht und bin dann aber wieder in die reine Arzttätigkeit zurückgegangen, nach Ludwigshafen und da hätte ich die Möglichkeit gehabt aufzusteigen und auch in Richtung Chefarzt zu gehen, aber das wäre nichts gewesen, was mein Mann akzeptiert hätte. Der selbst Chefarzt war. Sein Argument war immer “ja und die Familie“ und dagegen konnte ich natürlich nichts sagen. Ich kann nicht sagen: “Ja und du, du musst da raus.” Wenn zwei Leute die gleichen Positionen einnehmen, die gleiche zeitraubende Position, da bleibt für den dritten nicht mehr viel übrig. Aber das fand ich das Tolle, meine Kinder haben das dann sehr goutiert. Die haben das dann anerkannt, dass ich das so gehalten habe und haben sich aus dem, dass man eben dann für die Kinder da war, das herausgeholt, was sie brauchten, und damit war es ja auch gut. Aber für meinen Vater wäre das natürlich sozusagen das Gelbe auf dem Ei gewesen.
Regina Wiesinger: Ja. Wollen Sie uns zum Abschluss noch etwas mit auf den Weg geben? Oder gibt es noch ein Thema, eine Sache, die Ihnen ein großes Anliegen wäre, was Sie uns mitteilen wollen?
Frau Kleinschmidt: Ja, ich hoffe, dass die Bildung der jungen Menschen weiterhin eine breite und offene bleibt, die sie dazu befähigt, eine wache Sichtweise auf interessante Themen zu haben. Gleichzeitig aber nie die menschlichen (Werte) zu vergessen und sich gegenseitig zu achten. Und eigentlich das Menschenbild der Antike auch im Bild, im Blick zu behalten. Denn die griechische Antike hat ja den Menschen als erst dann perfekt bezeichnet, wenn er sogenannte „Kalokagathia“ [Verschmelzung von körperlicher Schönheit und geistigen Vorzügen], hat, also sowohl gut wie auch schön ist. Also das Ästhetische und das Moralische unter einen Hut bringen. Und es ist sicherlich nicht immer ganz einfach, aber ich denke, dass die Deutsche Schule so viele Fähigkeiten und so viel Potenzial hat, dass sie das schafft. Und das wünsche ich mir.
Regina Wiesinger: Ich danke Ihnen ganz, ganz herzlich für dieses ausführliche, wahnsinnig spannende, interessante Interview. Vielen Dank!

Lebenslauf

Dr. Elma Kleinschmidt, geb. Lichtenstein

Lebenslauf:

21.5.1937 in Athen geboren

Eltern: Prof. Dr. Ernst Lichtenstein und Carola Lichtenstein, geborene Hausleitner

Schwester Elisabeth Lichtenstein kam 1938 auf die Welt

1937-1944 in Athen lebend

1943-1944 Grundschule, Deutsche Schule in Athen

1944 Rückkehr der Mutter Carola Lichtenstein mit den 2 Töchtern nach Deutschland, nach Ruppersdorf bei Ansbach (Bayern). Ursprünglich war diese Reise nur als kurze Reise geplant, um Verwandte in Ostpreußen bei Königsberg zur Flucht zu bewegen. Doch die Rückkehr nach Griechenland war nicht mehr möglich. Deshalb blieb Carola Lichtenstein mit den Töchtern Elma und Elisabeth letztlich in Ruppersdorf, wo die Schwester von Carola Lichtenstein lebte.

Monate später 1944 Ankunft von Prof. Dr. Ernst Lichtenstein in Ruppersdorf (Mit dem letzten Truppentransport war ihm die Abreise aus Griechenland geglückt)

1944-1945 Dorfschule Ruppersdorf/Flachslanden

1945 Umzug nach München

1945-46 Grundschule in München, Bogenhausen

1946-1954 Aufnahmeprüfung und Schulzeit im Maximilians-Gymnasium in München (Humanistisches Gymnasium).

1953 Tod der Mutter Carola Lichtenstein

1954 Umzug und Berufung von Prof. Dr. Ernst Lichtenstein an die Universität Münster als Professor für Pädagogik und Philosophie

1955 Abitur am Schiller-Gymnasium Münster

1955-1963 Studium der Medizin an der Universität Münster

1963 Geburt Max Kleinschmidt

1964 Medizinal-Assistenz an Klinik Ansbach

1964 Promotion an der Uni Münster

1966-1968 Assistenzärztin Anästhesie an die Universitätsklinik Würzburg. Facharzt Anästhesie

1968 Heirat Wolfgang Kleinschmidt, Umzug nach Flensburg

1968 Geburt Tochter Carola Kleinschmidt

1970 Geburt Angela Kleinschmidt

1968-1972 Arbeit in der Schwesternausbildung am Krankenhaus Flensburg

1972 Umzug nach Bad Dürkheim. Wolfgang Kleinschmidt wird Chefarzt am Kreiskrankenhaus Bad Dürkheim

1973- 1974 Tätigkeit als Assistenzärztin Anästhesie am Klinikum Ludwigshafen

1975 Geburt Thomas Kleinschmidt

1976-2005 Schwesternausbildung am Kreiskrankenhaus Bad Dürkheim (mit Unterbrechungen) sowie Nachtdienste Notfallambulanz

2005 Berentung

Ab 2005: Viele Reisen und kulturelle Aktivitäten

Seit 2019 Umzug in Seniorenresidenz Neustadt an der Weinstraße

Außerberufliches Engagement: Gründung des Kiwanis-Club Bad Dürkheim, Charité-Club

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