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05. Mai 2016

Habt den Mut eure Träume zu verwirklichen!

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Über das Schicksal der jüdischen Mitbürger während der deutschen Okkupation ging es im ersten Teil der Schülerbegegnung, über „Entscheidungsfindungsprozesse in verschiedenen Lebenssituationen – Zeitzeugen sprechen über wichtige Entscheidungssituationen in ihrem Leben“ im zweiten Teil der Schülerbegegnung 2016. Sophia berichtet über ihre Erfahrungen.

✎   Beitrag: Sophia Fougia

Das, was man unter Vergangenheit versteht, muss immer neu ausgehandelt werden. Es gibt in dieser Frage kein heilsames Schweigen.“ (Jan Assmann, Ägyptologe, Religions und Kulturwissenschaftler)

Vorfreude, Neugierde, Aufregung und Begeisterung. Ungefähr so kann man die Gefühle an jenem Freitag beschreiben, als wir die Schülergruppe aus Distomo empfingen. Die aufwendige Organisation in den Wochen davor hatte uns in keiner Weise angestrengt, war uns auch nicht zu mühsam geworden oder hatte uns Anlass zu Beschwerden gegeben, ganz im Gegenteil: Die gemeinsamen Anstrengungen im Vorfeld des Schülerbegegnungsprojektes hatten uns allen große Freude bereitet. Gerade als wir noch die letzten Vorbereitungen trafen, betrat die Schülergruppe aus Distomo mit zwei Lehrerinnen unser Klassenzimmer. Plötzlich standen wir nebeneinander, aber es fühlte sich an, als trennten uns tausende Kilometer. Um gerade dieses Gefühl zu überwinden und um aufeinander zugehen zu können, gab es ja zum Glück unsere Lehrer. Sie waren es, die uns dabei halfen, das “Eis“ zwischen uns „zum Schmelzen zu bringen“, uns gegenseitig kennen zu lernen und Freundschaften zu schließen. In den lockeren Kennenlernspielen begann sich dann in der gemeinsamen Spielfreude, dem Lachen und der Ausgelassenheit eine positive Grundstimmung und Sympathie füreinander zu entfalten.

Bildquelle: Fotoarchiv, Schülerbegegnung DSA Distomo 2016

Das Thema, welches uns beim diesjährigen Schülerbegegnungsprojekt beschäftigte, war allerdings ein sehr ernstes und bedeutungsvolles: Die Juden Griechenlands unter dem Nationalsozialismus. Die Einführung in die historische Auseinandersetzung mit dem Thema der Schülerbegegnung übernahmen drei Schülerinnen der DSA, die einen Vortrag dazu vorbereitet hatten. Danach wurde das Buffet für die erschöpften Schüler aus Distomo und der DSA eröffnet, die schon einen langen Tag hinter sich hatten. Am nächsten Tag trafen wir uns mit der Schülergruppe aus Distomo an der jüdischen Synagoge in Keramikos, in der uns eine sehr nette Dame ausführlich über die Geschichte der jüdische Religion, die Synagoge sowie die jüdische Gemeinde in Athen berichtete. Nach all diesen vielen neuen und interessanten Informationen gingen wir noch gemeinsam essen. Die Atmosphäre war überaus herzlich, wir lachten viel, erzählten uns Witze und hatten so viel Spaß, dass wir dabei völlig die Zeit vergaßen. Der letzte Tag des Schülerbegegnungswochenendes brach an. Unser Treffpunkt war das jüdische Museum in der Athener Innenstadt. Wir nahmen an einer sehr interessanten Führung teil. Die verantwortliche Dame gab uns einen lebendigen Einblick in viele Teilbereiche der jüdischen Geschichte, der Sitten und des Brauchtums, sowie des jüdischen Alltagslebens.

Bildquelle: Fotoarchiv Schülerbegegnung DSA Distomo 2016

Den Abschluss bildete die Einladung zum gemeinsamen TavernenEssen durch die Deutsche Botschaft in Athen und dort klang auch das Wochenende beim gemütlichen Zusammensitzen aus. Obwohl für uns der Zeitpunkt des Abschiednehmens näher rückte, waren wir nicht traurig, denn wir wussten, dass uns schon bald ein unvergessliches Schülerbegegnungswochenende in Distomo erwarten würde.

 

Bildquelle: Fotoarchiv Schülerbegegnung DSA Distomo 2016

„Die schlimmste Entscheidung ist die Unentschlossenheit.“ (Benjamin Franklin)

Wir schreiben das Jahr 1952. Jannis ist gerade 17 Jahre alt, sein Vater ist Schuster im kleinen unbekannten Dorf Distomo. Acht Jahre sind vergangen, seit er seine Mutter verloren hat. Sie war eines der 218 unschuldigen Opfer, die an jenem Junitag des Jahres 1944 von SS Soldaten kaltblütig ermordet wurden. Jannis erinnert sich noch sehr genau an die grausamen Verbrechen an jenem Tag und an den Tod seiner Mutter.

Die Familie führt ein kärgliches Dasein. Das Einkommen des Vaters reicht gerade, um die Familie mit den drei Kindern durchzubringen. Jannis würde gerne studieren; er ist ein ausgezeichneter Schüler. Seine Vorliebe gilt der Mathematik. Er ist in jenem Alter, in dem jeder junge Mann sich Gedanken über seine Zukunft machen muss, große Pläne hat und von einem Leben weit weg von seinem ärmlichen Dorf träumt. Jannis möchte ein berühmter Mathematiker werden und die Welt kennenlernen, doch es fehlt ihm das Geld für das Studium. Er hat nicht einmal genug Geld, um sich ein Busticket nach Athen zu kaufen, geschweige denn sich ein kleines Zimmer zu mieten. Sein Vater kann ihn finanziell nicht unterstützen. Seiner Meinung nach, sollte Jannis so schnell wie möglich arbeiten, einen Beruf erlernen und auf eigenen Beinen stehen.

Bildquelle: Schülerbegegnung DSA-Lyzeum Distomo 2016

Eine ausweglose Situation?

Was wird Jannis machen, wofür wird er sich entscheiden? Wird er sich von den Ratschlägen seines Vaters leiten lassen, die sich an die traurigen Fakten halten und ihm den begrenzten Spielraum seiner Möglichkeiten vor Augen halten, ihm seine Illusionen rauben. Wird er sich den Notwendigkeiten stellen, der Verantwortung, die er gegenüber seiner Familie hat, sie zu unterstützen? Schließlich ist er der älteste der drei Geschwister, ein junger starker Mann, der mit beiden Händen kräftig zupacken kann. Ist er es nicht seinen Eltern schuldig, nun seinen Beitrag zum Familieneinkommen zu leisten? Aber da sind auch noch die Träume, Wünsche und Sehnsüchte von einem ganz anderen Leben. Jannis würde gerne vieles in seinem Leben ausprobieren. Als junger Mann steht ihm doch die Welt offen, er will sie für sich entdecken, will Abenteuer erleben, sich vergnügen, Spaß haben am Leben, das für ihn bis jetzt nur Verzicht bedeutete. Aber kaum hat er den Gedanken zu Ende gedacht, regt sich auch schon das schlechte Gewissen. Darf Jannis nur an sich selbst denken, ist das nicht zu egoistisch? Jannis muss vernünftig sein. Die Realität sieht für ihn leider düster aus. Er muss sich in sein Schicksal fügen. Doch Jannis ist auch klug. In der Schule war er immer der Beste. Daraus lässt sich doch etwas machen! Jannis hört tief in seinem Inneren eine Stimme, die ihm sagt: “Habe Vertrauen! Zögere nicht! Geh an die Universität! Dort steht dir das Wissen der ganzen Welt offen. Ergreife die Chance! Warte nicht, sonst ist es zu spät!“

Bildqelle: Schülerbegegnung DSA-Lyzeum Distomo 2016

Wie werden persönliche Entscheidungen getroffen?

Die persönliche Geschichte von Jannis verliert sich im unergründlichen Verlauf der Geschichte. Keiner weiß, wofür er sich entschieden hat, welchen Weg er gegangen ist. Was hätten wir gemacht, wären wir an Jannis Stelle gewesen? Von welchen Überlegungen, Motiven, äußeren Einflüssen und Zwängen, persönlichen Interessen, Ängsten oder Hoffnungen hätten wir uns leiten lassen? Wie entstehen überhaupt Entscheidungen? Lassen wir uns eher von unseren Gefühlen leiten oder von unserer Vernunft. Wägen wir vor jeder Entscheidungssituation pragmatisch Vor- und Nachteile ab? Treffen wir schnelle intuitive Entscheidungen oder reflektieren wir? Welche Rolle spielt unser Charakter, unser Temperament, unsere Lebensgeschichte, Erfahrungen, etc.?

Eine angeregte Diskussion entsteht unter den Schüler/innen des Lyzeums Distomo und der DSA. Jannis werden eine Fülle an Möglichkeiten mit auf den Weg gegeben. Sein Leben hätte, trotz der schwierigen Ausgangssituation für ihn ungeahnte Optionen bereithalten können. Der Fall Jannis fesselt uns, er lenkt aber auch den Blick auf uns und lässt uns nachdenklich werden. Wie treffen wir unsere persönlichen Entscheidungen? Auf dem Höhepunkt der Diskussion werden wir durch das völlig unerwartete und überraschende Erscheinen von Jannis belohnt.

Bildquelle: Schülerbegegnung DSA-Lyzeum Distomo 2016

Wer Jannis wirklich ist?

Ein stattlicher alter Herr, dem man sein wahres Alter nicht ansieht, betritt auf einem Gehstock gestützt und dennoch sicheren Schrittes den Saal. Die Überraschung ist ihm gelungen. Alle Blicke sind auf ihn gerichtet. Jannis ist mittlerweile 81 Jahre alt. Den Stuhl, den man ihm anbietet, um sich zu setzen, lehnt er energisch ab. Jannis wird 90 Minuten über sein langes, erfülltes, aufregendes Leben berichten. Vor uns breitet sich die Geschichte eines ganzen Jahrhunderts aus. Wichtige Ereignisse der griechischen Geschichte, die wir sonst nur aus den Schulbüchern kennen, werden vor uns lebendig. Jannis, der in Wirklichkeit Georgios Stavros heißt, ist ein wortgewaltiger Mann, eloquent mit einer unheimlichen Dynamik und Lebendigkeit in seiner Stimme. Er erzählt von seiner Kindheit und seiner Mutter, seiner Jugend und seinem Studium in Athen. Mittellos in Athen angekommen, musste er zunächst hart arbeiten, um dann später an der Militärakademie eine Ausbildung zu machen. Er begann eine Karriere in der griechischen Armee, nebenbei studierte er auch Wirtschaft. Er blickt heute mit sehr viel Dankbarkeit auf ein erfülltes Leben zurück. Die traumatischen Ereignisse seiner Kindheit haben seine Persönlichkeit nicht gebrochen. Sein Schicksal ist für ihn zur Lebensaufgabe geworden. Sein Engagement gehörte dem Einsatz für Frieden, Sicherheit und Gerechtigkeit in der Welt. Dass man dabei Angehöriger der Armee ist, ist für ihn kein Widerspruch. Als Mitglied der Armee hatte er stets dem Erhalt des Friedens und der Sicherheit gedient.

Habt den Mut eure Träume zu verwirklichen!

Bildquelle: Schülerbegegnung DSA-Lyzeum Distomo 2016

Seine Botschaft an seine jungen Zuhörer ist schlicht und ergreifend: Geht entschlossen euren Weg. Habt den Mut, eure Träume zu verwirklichen, auch wenn deren Verwirklichung zunächst aussichtslos erscheint. Behaltet stets eure Menschlichkeit und tragt dazu bei, die Welt und die Gesellschaft zu humanisieren. Lasst euch nicht von politischen Extremisten oder Fanatikern verführen. Jede Art von ideologischem oder politischem Fanatismus ist eine Bedrohung für die Demokratie. Wir brauchen dazu nur in die Geschichte zu blicken!

Die 90 Minuten vergehen wie im Flug. Viele Fragen beschäftigen die Schüler/innen beider Schulen, auf die Herr Stavros sehr geduldig antwortet. An diesem Abend haben wir nicht nur Jannis/Herrn Stavros kennengelernt, sondern auch viel über uns selbst erfahren.

Wir danken Herrn Stavros sehr herzlich für sein Kommen sowie Frau Benekou, Livadia, Dr. der Vergleichenden Literaturwissenschaft, Leiterin des Zentrums für Schülerberatung beim griechischen Erziehungsministerium für den interessanten Workshop.

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