Lehrer Lichtenstein 3 Pädagogik

Ernst Lichtenstein: Philosoph, Pädagoge, Humanist

„Aber niemand vermag mehr all die zu zählen, denen durch die Nationalsozialisten der Eintritt in die akademische Laufbahn systematisch verwehrt wurde. Kaum jemand wird heute noch das unsägliche individuelle Leid ermessen können, das diese Generation junger Gelehrter ertragen mußte.“

Clemens Menze in seiner Gedenkrede auf Ernst Lichtenstein am 13.12.1971

Ernst Lichtenstein studierte von 1921-27 in München, Heidelberg, Köln und Kaliningrad, damals Königsberg. Er widmete sich den Fächern der Philosophie und Psychologie, Geschichte und Soziologie und der deutschen Literatur- und Sprachwissenschaft.  1925 promovierte er im Alter von nur 25 Jahren im Fach Philosophie. Für die Dissertation „Die Wertprinzipien in Fichtes Geschichtsphilosophie“ erhielt er die Note „Sehr gut“, die erste Staatsprüfung für das höhere Lehramt schloss er zwei Jahre späte sogar mit Auszeichnung ab. Das Studienseminar im damaligen Königsberg, in dem er während des Referendariats ausgebildet wurde, bezeichnet er selbst als „im Geiste der Preussischen Schulreform und der pädagogischen Bewegung“ stehend.[1] 1929 wurde er mit der Note „gut“ zum Studienassessor des höheren Lehramts ernannt, durfte also als Gymnasiallehrer unterrichten. Während er an mehreren Schulen unterrichtete, wirkte er ab 1931 an der Konzeption der pädagogisch-methodischen Ausbildung der Studienreferendare mit. Nachdem er nun bereits Lehrer für Deutsch, Geschichte und Philosophie war, legte er 1932 auch noch die Staatsprüfung im Fach Religion ab.[2] In den Auslandsschuldienst ging er 1933 nach eigenen Angaben, wegen der „beginnende[n] Verfinsterung der politischen Lage“, durch die seine „Aussichten in Deutschland immer fragwürdiger wurden“.[3] Lichtenstein hatte leider mit seiner Vermutung richtig gelegen: Wegen seiner jüdischen Herkunft – einer seiner Großväter war Jude gewesen – wurde ihm die Ernennung zum Studienrat verweigert.

In einem Bericht des Ministerialrats Schellberg nach Besichtigung der DSA 1933 wird Lichtensteins Unterricht sehr positiv bewertet und seine Methodik schient dem zu entsprechen, was er in der Theorie vertritt. So heißt es: Studienassesor Lichtenstein bespricht in Prima Storms „Schimmelreiter“. Der feine, gut sprechende Lehrer versteht es, die ganze Klasse zu einer verständnisvollen und lebendigen Besprechung des Werkes heranzuziehen. Erfreulich ist, daß die Schüler sich eine selbstständige Meinung gebildet haben. […][4] Nach seinem Ausschluss aus dem Schuldienst baute er erst im Auftrag der Deutschen Akademie in München eine Sprachschule in Kavalla auf, war dann als Deutschlehrer in Athen beim griechischen Staat angestellt und kehrte Ende 1944 nach Deutschland zurück (siehe Lebenslauf). 

Ernst Lichtenstein kämpfte nach seiner Rückkehr nach Deutschland um seine berufliche Karriere, die durch die menschenverachtenden Rassengesetze der Nationalsozialisten unterbrochen worden waren. Er selber sah in seiner Rückkehr in die Lehrtätigkeit 1946 einen Auftrag, da er „glaubte, im neuen Deutschland keinen besseren Dienst an der Jugend tun zu können, als den, den Geist christich-abendländischer und sozialer Verantwortung in die deutsche Schule hinanleiten zu helfen.“

Am 17. Dezember 1949 habilitiert Ernst Lichtenstein in Philosophie und Pädagogik mit dem Thema „Philosophie und Schule als bildungstheoretisches Problem“.

Sein reger Briefwechsel mit seinem Freund Bodo v. Waltershausen von 1922 bis 1937 zeugt von einer permanenten theoretischen Beschäftigung mit der Philosophie. Die Wege beider durch Studium und Ausbildung kreuzen sich in München, Heidelberg und Köln. Auch von Waltershausen verknüpfte in seinen Studien und Schriften Philosophie und Pädagogik, mit einem stärkeren Einschlag der Theologie. Während Lichtenstein sich ins noch nicht besetzte Griechenland rettet, trat sein Freund in den NSLB ein, 1933 in die SA und schließlich 1937 in die NSDAP.[5]  Trotzdem halten die beiden Freunde freundschaftlichen, intellektuellen Kontakt. Dies mag daran gelegen haben, dass sich von Waltershausen in seiner wissenschaftlichen Karriere zwar nicht vom NS distanzierte, aber auch „von einer nationalsozialistischen Philosophie nichts sichtbar [wurde]“.[6] 1939 wird von Waltershausen eingezogen, seit 1944 gilt er als vermisst.
Noch im Jahr 1936 schreibt Lichtenstein an Waltershausen, der sich stark mit Paracelsus beschäftigt: „Mein lieber Bodo, wenn ich dir warm für die freundschaftliche Gabe Deine Parazelsus danke, so weiss ich, dass du ihn mir auch aus der alten, schönen Verbundenheit philosophischen Weilens und Denkens, Entwerfen und Anerkennens heraus schicktest.“[7] Es folgt eine philosophische Auseinandersetzung mit den Ausführungen seines Freundes.

Lichtenstein kämpft  nach 1945 um seine wissenschaftliche Karriere. Als „amtsverdrängter Hochschullehrer“ nach §131 des Grundgesetzes hätte er ab dem Zeitpunkt des Inkrafttretens dieses Gesetzes mindestens in seiner vorherigen Position eingesetzt werden müssen. Doch zu diesem Zeitpunkt hatte er sich schon eigenständig weit darüber hinaus hochgearbeitet: Nach seiner Habilitation 1947 lehrt er im Jahr 1951 bereits an den Universitäten München und Erlangen, ab 1954 wird der Lehrstuhl für Pädagogik an der Universität Münster von ihm besetzt.[8] In der Begründung für seine Empfehlung zur Einstellung heißt es, er gelte „in den Kreisen seines Faches als überzeugende Gestalt des Nachwuchses.“[9] Als es Ende der 50er Jahre aus finanziellen Gründen an der Universität Münster Bestrebungen gibt, die Fächer der Philosophie und Pädagogik in einem Lehrstuhl zusammenzulegen, tritt Lichtenstein dem zunächst entgegen, beantragt allerdings 3 Jahre später die Umbenennung in „Lehrstuhl für Pädagogik und Philosophie“.[10] Dies entspricht aber eigentlich viel eher dem frühen pädagogischen Denkens Lichtensteins. So urteilt Claus Menze in seiner Rede auf der Gedenkfeier für Ernst Lichtenstein: „Der Schwerpunkt […] liegt in der Philosophie und Pädagogik; aber auch theologische Fragen treten stark hervor, vor allem im Zusammenhang mit geistesgeschichtlichen, anthropologischen und aktuellen pädagogischen Fragen. […]“[11] Seine Forschung zur Pädagogik beginnt in der griechischen Philosophie: „An Isokrates fasziniert ihn vor allem die geschichtliche Wirkmächtsigkeit, die ihn zum Lehrer des Abendlandes hat werden lassen. In Sokrates sieht er die Urgestalt des abendländischen Erziehers. In Platons mächtigem Werk aber [gemeint ist die Politeia] entspringt für ihn jene Metaphysik der Erziehung [παιδεία], deren Hinsichten das nachfolgende Denken so nachhaltig bestimmt haben, daß es bislang immer noch vergeblich war, […] aus diesen vorgeordneten Zugriffen überhaupt, unter denen wir heute noch Erziehung und Bildung zu denken gewohnt sind, zu entkommen. […] So ist Geschichte für Lichtenstein immer Problemgeschichte.“[12] Aus der Geschichte heraus leitet Lichtenstein eine pädagogische Praxis ab, die den Erziehenden beauftragt, seinen Beitrag zur „Freisetzung der Menschlichkeit des jungen Menschen“[13] beizutragen, immer mit dem menschlich handelnden Erwachsenen als Ziel. Klar wendet er sich gegen eine antiautoritäre Erziehung, die das tatsächliche Verhältnis des Erwachsenen zum Kind verkenne und die Erziehenden von ihrer Aufgabe befreie, das Kind sanft bei seiner Entfaltung zu leiten und zu begleiten.[14]

Parallel zu seiner wissenschaftlichen Arbeit ist Ernst Lichtenstein, selber evangelisch, nach dem 2. Weltkrieg in der Gesellschaft für chrsitlich-jüdische Zusammenarbeit aktiv, war sogar von 1948-1953 Vorsitzender. Er selbst beschreibt als Ziel der Gesellschaft die „erzieherische Überwindung der Kollektivvorurteile.“[15]

Zu gerne möchte man Lichtenstein als Menschen begreifen, hinter seiner wissenschaftlichen Arbeit denjenigen sehen, der zwischen all den Steinen, die ihm in den Weg geworfen wurden, lebte, liebte, zwei Töchter zeugte und Freundschaften pflegte. Den Menschen, der den Mut und die Kraft hatte, immer wieder aus eigener Kraft Neues zu schaffen. Und man möchte ihn fragen, wie er trotz alledem, was ihm widerfahren ist, die Freundschaft mit jemandem pflegen konnte, der in der SA war. Wie er 1933 nach Deutschland reiste, und auch 1936 vorhatte, solch eine Reise anzutreten[16] und bereits Ende 1944 nach Deutschland zurückkehrte, um die Abwicklung der Deutschen Akademie zu unterstützen, die ihn so schändlich behandelt hatte; in ein Deutschland, dass ihn und seine Familie verfolgt und vernichtet hatte.[17] All das werden wir ebensowenig erfahren wie Antworten auf die Frage, wie seine Geschichte auch sein wissenschaftliches Denken und Arbeten und ihn als Mensch geprägt haben.

So schreibt auch Clemens Menze: „Aber was ist all das Dargelegte im Vergleich zu der lebensvollen Persönlichkeit selbst! […] Jede Darstellung, jede Charakterisierung des Lebendigen stoßen an diese Grenze. Das so Vertraute verwandelt sich in der notgedrungenen begrifflichen Reproduktion in ein uns Fernes und Fremdes, dem in wesentlicher Weise gerade das abgeht, was uns an ihm so nahe, so bekannt, so schätzenswert gewesen ist.“[18]


[1]     Universitätsarchiv Augsburg, Nachlass Ernst Lichtenstein 208; S. 7f.

[2]     Vgl. ebd.

[3]     Ebd., S. 9.

[4]     Bundesarchiv, Mikrofilm R1501/126966: Bericht über Reifeprüfung, Schlußprüfungen der Deutschen Schule in Athen sowie über die Besichtigung der Anstalt vom 01. September 1933.

[5]     Tilitzki, Christian: Die deutsche Universitätsphilosophie in der Weimarer Republik und im Dritten Reich 1: Köln 1931: Bodo Sartorius von Waltershausen, Berlin 2002; S. 343ff.

[6]     Ebd. S. 345.

[7]     Universitätsarchiv Augsburg, Nachlass Ernst Lichtenstein 231, S. 76.

[8]     Vgl. Rothland, Martin: Disziplingeschichte im Kontext: Erziehungswissenschaft an der Universität, Bad Heilbrunn 2008; S. 155.

[9]     Schreiben an das Ministerium vom 23.07.1954, zitierte nach Rothland 2008; S. 157.

[10]   Ebd.; S. 162.

[11]   Schriften der Gesellschaft zur Förderung der Westfälischen Wilhelms.Universität zu Münster, Heft 64: Menze, Clemens: Gedenkrede auf Ernst Lichtenstein (1900-1971), Münster 1973; S. 9.

[12]   Ebd., S. 14f.

[13]   Ebd., S. 21.

[14]   Vgl. ebd., S. 22ff.

[15]   Universitätsarchiv Augsburg, Nachlass Ernst Lichtenstein 208; S. 6.

[16]   Vgl. Universitätsarchiv Augsburg, Nachlass Ernst Lichtenstein 46, S. 41.

[17]   Vgl. ebd., S. 11.

[18]   Schriften der Gesellschaft zur Förderung der Westfälischen Wilhelms.Universität zu Münster 1973, S. 37.

______________________________________________________________________________

[1]     Ebd., S. 14f.

[1]     Ebd., S. 21.

[1]     Vgl. ebd., S. 22ff.

[1]     Universitätsarchiv Augsburg, Nachlass Ernst Lichtenstein 208; S. 6.

[1]     Vgl. Universitätsarchiv Augsburg, Nachlass Ernst Lichtenstein 46, S. 41.

[1]     Vgl. ebd., S. 11.

[1]     Schriften der Gesellschaft zur Förderung der Westfälischen Wilhelms.Universität zu Münster 1973, S. 37.

Ein Beitrag von Katharina Strutinsky